Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Im Zug in Tokio

Auch diese Geschichte fand ich auf der Webseite von Serena Rust. Ich konnte bei ihr keine Quellenangabe finden. In einer anderen Quelle, bei einem Verein für Homöopathie und Gesundheit, hieß es, es sei ein Brief an Ram Dass, den ein Freund übersetzt habe.

Ich habe die Geschichte ganz woanders abgespeichert:

Der leere Spiegel
Erfahrungen in einem japanischen Zen-Kloster
Von Janwillem van de Wetering

Vielleicht weiß ja einer von Euch mehr.

Betrunkener im Zug in Tokio
Der Zug ratterte an einem verschlafenen Frühlingsnachmittag durch die Vororte von
Tokio. Unser Abteil war vergleichsweise leer – ein paar Hausfrauen mit ihren
Kindern, einige alte Leute, die Einkaufen gingen. Geistesabwesend betrachtete ich
die düsteren Häuser und staubigen Hecken. An der Haltestelle öffneten sich die
Türen, und plötzlich wurde die Nachmittagsruhe von einem Mann gestört, der
unverständliche Flüche brülle. Er stolperte in unser Abteil. Er war von kräftiger
Gestalt, betrunken und schmutzig und trug Arbeiterkleidung. Brüllend holte er zum
Schlag gegen eine Frau aus, die ein Baby im Arm hielt. Der Stoß schleuderte sie
gegen ein sitzendes älteres Ehepaar. Es war ein Wunder, dass dem Baby nichts
passierte.
Entsetzt sprang das Ehepaar auf und hastete ans andere Ende des Wagens. Der
betrunkene Arbeiter wollte der flüchtenden alten Frau noch einen Tritt verpassen,
aber sie war ihm glücklicherweise schon entwischt. Dies machte ihn so wütend, dass
er nach einer Haltestange in der Wagenmitte griff und versuchte, sie aus ihrer
Verankerung herauszureißen. Ich konnte sehen, dass eine seiner Hände blutete. Der
Zug ratterte voran, und die Passagiere waren starr vor Angest. Ich stand auf.
Ich war damals noch jung, ungefähr zwanzig Jahre alt und in ziemlich guter Form. Ich
hatte die letzten drei Jahre jeden Tag ungefähr acht Stunden mit Aikido-Training
zugebracht. Die Würfe und Griffe brachten mir großen Spaß. Das Problem war, dass
meine Fähigkeiten noch nie in einem echten Kampf erprobt worden waren. Aikido-
Schüler durften nicht kämpfen.
„Aikido“ hatte mein Lehrer immer wieder gesagt, „ist die Kunst der Versöhnung. Wer
Lust zum Kämpfen hat, hat seine Verbindung mit dem Universum abgebrochen.
Wenn ihr versucht, andere Menschen zu beherrschen, seid ihr schon geschlagen.
Wir lernen, wie man Konflikte löst, nicht wie man sie verursacht.“
Ich hatte ihm immer aufmerksam zugehört. Ich gab mir sehr viel Mühe. Ich ging
sogar so weit, auf die andere Straßenseite zu gehen, um den Chimpera, den
Ausgeflippten, auszuweichen, die in der Nähe der Bahnhöfe herumlungerten. Meine
Umsicht erstaunte und begeisterte mich selbst. Ich fühlte mich stark und heilig.
Insgeheim jedoch sehnte ich eine Gelegenheit herbei, bei der ich die Unschuldigen
retten konnte, indem ich die Schuldigen vernichtete.
„Jetzt ist es soweit“, sagte ich zu mir, als ich aufstand. „Hier sind Menschen in
Gefahr. Wenn ich nicht schnell eingreife, wird wahrscheinlich jemand verletzt
werden.“
Als der Betrunkene mich aufstehen sah, nahm er die Chance wahr, seine ganze Wut
auf eine bestimmte Person zu konzentrieren. „Ah“, brüllte er, „ein Ausländer! Du
brauchst wahrscheinlich eine Lektion in japanischen Umgangsformen!“
Ich hielt die Halteschlaufe über mir locker in der Hand und sah ihn voller Abscheu
und Verachtung an. Ich hatte vor, diesem Rohling ein für alle Mal zu zeigen, was
Sache war, aber er musste den ersten Schritt tun. Ich wollte ihn provozieren, und so
spitzte ich die Lippen und warf ihm einen Kuss zu. „Okay!“ brüllte er, „Ich werde dir
mal eine kleine Lektion erteilen.“ Er sammelte sich, um mich anzugreifen.

Einige Zehntelsekunden, bevor er sich in Bewegung setzen konnte, rief jemand:
„Hey!“ Der Ruf berührte alle Anwesenden bis ins Innerste ihrer Seele. Ich erinnere
mich an den seltsam fröhlichen, schwungvollen Klang – als ob Sie und ein Freund
längere Zeit nach etwas gesucht hätten, und plötzlich hätte er es entdeckt. „Hey!“
Ich schwenkte nach links; der Betrunkene drehte sich nach rechts. Unser beider
Blicke fielen auf einen kleinen alten Japaner. Er musste über siebzig sein, dieser
kleine Herr, der untadelig adrett in seinem Kimono dasaß. Er nahm keine Notiz von
mir, aber er strahlte den Arbeiter erfreut an, als ob er ihm ein höchst wichtiges,
angenehmes Geheimnis mitzuteilen hätte.
„Kommen Sie her“, sagte der alte Mann und winkte den Betrunkenen heran.
„Kommen Sie her, und sprechen Sie mit mir!“
Der große Mann näherte sich ihm, als würde er von einem unsichtbaren Faden
gezogen. Er stampfte vor dem alten Herrn provozierend mit dem Fuß auf und brüllte
lauter als die ratternden Räder: „Verdammt noch mal, warum sollte ich mit Ihnen
reden?“ Der Betrunkene stand nun mit dem Rücken zu mir. Wenn sich sein
Ellenbogen auch nur einen Millimeter bewegte, würde ich ihn zu Boden strecken.
Der alte Mann strahlte den Arbeiter immer noch an. „Was haben Sie denn
getrunken?“ fragte er, und seine Augen leuchteten wohlwollend. „Ich habe Sake
getrunken“, brüllte der Arbeiter zurück, „und das geht Sie überhaupt nichts an.“ Er
brachte das so heftig hervor, dass er den alten Mann mit seinem Speichel besprühte.
„Oh das ist ja wunderbar!“ erwiderte der Alte, „Absolut wunderbar! Wissen Sie, ich
mag Sake auch sehr gern. Jeden Abend wärmen meine Frau (sie ist jetzt
sechsundsiebzig, wissen Sie) und ich eine kleine Flasche Sake und nehmen sie mit
in den Garten. Dort setzen wir uns auf unsere alte Holzbank. Wir schauen uns den
Sonnenuntergang an und sehen nach, was unser Dattelbaum macht. Mein Großvater
hat den Baum gepflanzt, und wir hoffen sehr, dass er sich von den eisigen Stürmen
des letzten Winters wieder erholen wird. Aber der Baum hat sich besser gemacht, als
ich erwartet hätte, besonders wenn man die schlechte Qualität des Bodens
berücksichtigt. Es ist schön, ihn anzuschauen, wenn wir im Garten sitzen, den Abend
genießen und unseren Sake trinken – wir machen das sogar, wenn es regnet!“ Er
schaute den Arbeiter an und zwinkerte ihm freundlich zu.
Während der Betrunkene sich darum bemühte, der Erzählung des alten Mannes zu
folgen, entspannte sich sein Gesicht. Nach und nach öffneten sich seine Fäuste.
„Ja“, sagte er, „ich liebe Dattelbäume auch sehr.“ Er verstummte. „Ja“, sagte der alte
Mann lächelnd, „und ich bin sicher, dass Sie eine wunderbare Frau haben.“
„Nein“, erwiderte der Arbeiter, „meine Frau ist gestorben.“ Ganz leise, mit der
Bewegung des Zuges schaukelnd, begann er zu schluchzen. „Ich habe keine Frau.
Ich habe kein Zuhause. Ich schäme mich so sehr.“ Tränen rollten ihm über die
Wangen. Ein verzweifeltes Zucken schüttelte seinen Körper. Plötzlich fiel es mir wie
Schuppen von den Augen. Wie ich so in meiner jugendlichen Unschuld, meiner
naiven Selbstgerechtigkeit dastand, fühlte ich mich dreckiger als er es war. Der Zug hatte meine Station erreicht. Als sich die Türen öffneten, hörte ich den alten Mann mitfühlend sagen: „Oje, oje, das sind aber schwierige Vorherbestimmungen. Setz dich zu mir und erzähle mir davon!“ Ich drehte meinen Kopf für einen letzten Blick. Der Arbeiter hatte sich am Sitz zusammengekauert, mit dem Kopf im Schoß des Alten. Sanft strich ihm der Alte durch das verfilzte Haar. Als der Zug die Station verließ, setzte ich mich auf eine Bank und dachte: „Was ich versucht hatte mir Muskeln und Kraft zu tun, war mit Liebe vollbracht worden“.

Ist nicht alles umsonst?

Diese Geschichte fand ich auf der Seite von GfK-Trainerin Serena Rust.


Ist nicht alles umsonst?

Am Rande der Wüste lebte ein Eremit. Eines Tages besuchte ihn ein Jüngling und klagte ihm sein Leid. „Ich lese so viel heilige Texte“, sagte er. „Ich studiere in den Büchern und vertiefe mich in die Schönheit der Worte. Ich möchte sie behalten und als einen Widerschein der ewigen Wahrheit in mir bewahren. Aber es gelingt mir nicht. Alles vergesse ich! Ist die mühevolle Arbeit des Lesens und Studierens umsonst?“ Der Eremit hörte ihm gut zu. Als er fertig war mit dem Sprechen, gab er ihm einen Binsenkorb. „Hol mir aus dem Brunnen dort drüben Wasser“, sagte er zu dem Jüngling. „Hat er meine Frage nicht verstanden?“ fragte sich dieser. Widerwillig nahm er den vom Staub verschmutzten Korb auf und schöpfte Wasser, das längst herausgelaufen war, als er zurückkehrte. „Geh noch einmal“, sagte der Eremit. Der junge Mann gehorchte. Immer wieder füllte er Wasser in den Korb, immer wieder rann es zu Boden. Nach dem zehnten Mal konnte er aufhören. „Sieh den Korb an“, sagte der Eremit. „Er ist ganz blank geworden. So geht es dir mit den Worten, die du liest und bedenkst. Du kannst sie nicht festhalten, sie gehen durch dich hindurch, und du hältst die Mühe für vergeblich. Aber, ohne dass du es merkst, klären sich deine Gedanken und machen dein Herz rein.“

aus: Barbara und Hans Hug, „Blätter, die uns durch das Jahr begleiten“, Kreuz Verlag

Klare Linie

„Wir sind das in sein eigenes Bild eingesperrte Märchen. Wir kommen und gehen, ohne Klarheit zu erlangen.“ – Jostein Gaarder, Maya

Wer eine klare Linie vertritt, gilt als verlässlich. Selbst wenn die Haltung anderen nicht zum Vorteil diente, werden Menschen, die an ihrer Überzeugung festhalten, für ihre Prinzipientreue oft hoch geschätzt. Einer, der sich viel Achtung erworben hatte, wird aber gern mit einem ganz anderen Satz zitiert: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“, soll Konrad Adenauer gesagt haben. Die Gewaltfreie Kommunikation lädt geradezu dazu ein, sich immer wieder neu zu entscheiden und Entscheidungen immer wieder unter dem Blickwinkel zu treffen: Was ist jetzt gerade lebendig in mir?

Die Partnerschaft ist ausgereizt, die Trennung beschlossene Sache, doch plötzlich stehen sich zwei Menschen gegenüber, die sich nicht gehen lassen können. Hilft hier Prinzipientreue? Was vorbei ist, ist vorbei? Oder gibt es noch eine Chance auf einen Neubeginn? „Ich verliere doch im Freundeskreis mein Gesicht, wenn ich mich offensichtlich nicht entscheiden kann“, sagt ein Freund. Und ein anderer fürchtet: Wenn ich jetzt gegenüber meinem Chef wieder einknicke, bin ich doch völlig unglaubwürdig. Es muss doch irgendwann mal Klarheit sein…

Die Klarheit kommt, wenn die Zeit reif ist. Die Klarheit kommt, wenn alle anderen Bedürfnisse angemessen berücksichtigt sind. Solange verschiedene Bedürfnisse in uns lebendig sind, ist es schwierig, zur Klarheit zu finden. Wenn es uns gelingt, allen Bedürfnissen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, wird die Klarheit sich einstellen.

Wenn wir noch keine Klarheit haben, ist das kein Zeichen von Schwäche oder Unfähigkeit. Es heißt einfach nur, dass wir noch nicht alle unsere Bedürfnisse in Einklang gebracht haben.

Heute will ich gelassen bleiben, auch wenn ich noch keine Klarheit gefunden habe.

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