Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Dankbarkeit: 28. Dezember 2013

Hallo, Welt!
Gestern gratulierte mir eine GfK-Weggefährtin mit einer Re-Mail zur Bekanntgabe meiner Zertifizierung vor einem Monat. Dabei las ich noch einmal, was das CNVC über mich schreibt, die warmen Worte meiner Assessorin, und meine eigenen Gedanken. Und in meinem eigenen Text fand ich:

Gratitude is the key to happyness

Dieser Satz stammt von Gerald Jampolsky, dessen Bücher ich ja bekanntermaßen sehr schätze. Zumindest habe ich ihn dort zuerst gelesen, vor vielen, vielen Jahren. Meine Mutter klagte heute am Telefon, es fiele ihr so schwer, die Blumen zu gießen oder bestimmte Verrichtungen in ihrem Zuhause vorzunehmen. Und ich lenkte – nach einer Prise Empathie – ihren Blick auf das, was noch geht: Wie sorgsam sie ihren gesamten Schriftwechsel im Auge hat. Wie diszipliniert sie noch immer all ihre Angelegenheiten erledigt. Dass sie erkennt, was an der Verschreibung des Arztes so nicht funktionieren wird, wenn wir es bei der Kasse einreichen (es war vergessen worden, Diabetes mellitus mit aufzuschreiben…). Ich entscheide mit meiner Blickrichtung, wie es mir geht. Freue ich mich an den Dingen, die gut sind in meinem Leben, oder rege ich mich über das auf, was im Mangel ist?
Mein Appell lautet nicht, den Mangel zu ignorieren. Aber es erscheint mir ziemlich sinnlos, mich über Dinge aufzuregen, die sind (Byron Katie). Ich kann schauen, welche Bedürfnisse bei mir unerfüllt sind, und dann kann ich los marschieren und versuchen, daran etwas zu ändern. Ärgere ich mich über die Dinge im Haushalt, die unerledigt sind, oder erkenne ich an, dass ich mein Bestes gebe, um in dieser stressigen Zeit alle Dinge unter einen Hut zu bringen?
Wenn ich dankbar bin für das, was ich habe, für das, was mir zuteil wird, für das, was mir gelingt, entschuldige ich damit nicht das andere. Es geht nicht darum, unerfüllte Bedürfnisse zu ignorieren. Es geht darum, in die Kraft zu kommen, mein Leben zu meistern. Und ich bin sicher: Das funktioniert besser aus einer Haltung der Dankbarkeit heraus als mit der Blickrichtung auf das, was alles fehlt.

So long!

Ysabelle

Horror Vacui

Mit seinen Versuchen widerlegte Guericke auch die Hypothese des horror vacui, der „Abscheu vor der Leere“, die jahrhundertelang Philosophen und Naturforschern ein Problem war. Guericke bewies, dass Stoffe nicht vom Vakuum angesaugt werden, sondern vom Umgebungsdruck in das Vakuum gedrückt werden.
http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Guericke

Hallo, Welt!
Auf das „Honig“-Posting gab es eine Resonanz hier im Blog (danke, Gabriel), und eine via Mail. Danke, liebe Autorin! In letzterer heißt es:
Liebe Ysabell, dein Satz
“Alter, der Honig kann nichts dafür… du machst es dir unnötig schwer!”

Das wäre keine Gfk gewesen, jedoch sehr lebendig und möglicherweise genau das, was ihm geholfen hätte.

Mein „Verdacht“ ist, dass manche Freunde die Empathie genießen als Aufmerksamkeit und um diese Aufmerksamkeit immer wieder zu bekommen, bleiben sie gerne in ihren alten Schleifen hängen.

Das ist doch ein Gedanke, den wir hier trefflich diskutieren können.
Neulich Nacht hatte ich einen besonders unruhigen Schlaf. Nachdem ich drei Mal die Kachelabteilung aufgesucht hatte, wurde ich um fünf wach und konnte nicht wieder einschlafen. Mir war klar, dass der Wecker um 5.45 Uhr klingelt, und diese knappe „Start-Stop-Zeit“ stand einer Entspannung im Weg. Der Mensch an meiner Seite murmelte etwas von „was ist los, kannst du nicht schlafen?“. Ich antwortete so ungefähr, „ne, mir schwirrt der Kopf mit allem, was heute noch zu erledigen ist, ich glaube ich steh auf.“ Daraufhin hörte ich: „Jeder ist für seine Verrücktheiten selber zuständig.“ Au au!!!
Es kann sein, dass ich mit fortschreitendem GfK-Gebrauch immer empfindlicher werde. Aber in dem Moment war in mir einfach eine schmerzhafte Leere. Ich habe wohl mit sarkastischem Unterton „danke“ oder ähnliches geknirscht und hatte das Glück, dass mein Mitschläfer sich sehr flott zu mir umdrehte, mich in den Arm nahm und sagte, „hey, was kreist denn da bei dir?“ Für morgens um fünf eine preiswürdige Leistung, finde ich.
Es tut so gut, einfach verstanden zu werden. „… and it feels damn‘ good…“, sagt Marshall Rosenberg, und ich kann ihm nur beipflichten. Heute sprach ich mit einer Frau, die eine Zahnarzt-Phobie hat. Als junge Frau wurden ihr drei Zähne ohne Betäubung gezogen, weil sie im sechsten Monat schwanger war. Nach dem Eingriff hat sie ihr Baby verloren. Ich denke nicht, dass es ihr gut tun würde, wenn ich ihr erzähle, wo der nächste Zahnarzt wohnt, der sich auf Angstpatienten spezialisiert hat.
Hatten wir überhaupt jemals eine einfühlsame Natur? Wir – also wir Menschheit? Wenn ja, wieso bekriegen wir uns? Warum müssen wir dann mühsam lernen, empathisch zu sein? Ich habe Trainigsjahre gebraucht, um wenigstens ab und zu zu merken, was in mir lebendig ist, wenn ich den anderen beratschlage oder ihm mal erzähle, wie die Welt aus meiner Perspektive aussieht. Ich kann das aktuell bei meinen Schülern trainieren, aber auch im Freundeskreis oder bei meiner Mutter. Die will auch nicht hören, dass sie sich nicht so anstellen soll. Ein IPad bedienen können zweijährige Kinder, also warum nicht sie… Ich glaube, wenn ich einen solchen Satz vom Stapel lasse, wird sie das keinen Millimeter dichter an die Technik führen, sondern vielmehr dafür sorgen, dass sie sich in ihren Ängsten noch weniger gesehen wahrnimmt. Zufällig weiß ich, dass ihr dieses ganze Multimediakram totale Angst macht. Sie fürchtet, das nicht zu verstehen, sie fürchtet, etwas falsch zu machen, versehentlich etwas zu löschen, Dinge loszutreten, die sie nicht versteht und nicht kontrollieren kann. Und da sie 78 Jahre ohne diese Technik klargekommen ist, sieht sie auch keine Veranlassung, sich damit anzufreunden…

Der „Honig“-Freund durfte sich natürlich zu einem späteren Zeitpunkt unseres Gesprächs mit der Frage befassen: „Dieses Verhalten erfüllt dir ja ein bestimmtes Bedürfnis. Das machst du ja nicht einfach so. Worum genau geht es dir da?“ Und wir fanden heraus, dass es Schutz war. Schutz vor Schmerz, Schutz vor Verletzung, auch Schutz vor der Macht der unerfreulichen Erinnerung.

Wenn ich merke, dass ich nicht gesehen oder nicht verstanden werde, dass mein Gegenüber nicht bei mir ist, spüre ich häufig eine schmerzhafte Leere. Ich merke auch, dass diese Leere dann aber keine Dinge ansaugt, außer vielleicht Snickers, Joghurette, Lakritzschnecken, Ritter Sport Nougat, Salmilollis oder Lünebest Nussjoghurt. Und es gibt einen Impuls, dieses Loch mit irgendetwas zu stopfen. Gern genommen: Bücher. Aber wie in dem Experiment von Guericke beschrieben kommt nicht von innen der Sog. Vielmehr ist es der Druck der Umgebung, der signalisiert: Sei nicht so wie du bist. Die von mir so geschätzte Autorin Melody Beattie schrieb dazu in der Tagesmeditation vom 5. März:

5. März – Sei so, wie du bist:

Wenn ich Menschen begegne oder eine neue Beziehung eingehe, unterwerfe ich mich vielen repressiven Einschränkungen. Ich lasse meine Gefühle nicht zu. Ich unterdrücke meine Wünsche und Bedürfnisse. Ich wehre mich gegen meine eigene Geschichte. Ich erlaube mir nicht, die Dinge zu tun, die ich tun möchte, die Gefühle zu haben, die ich spüre, oder das zu sagen, was ich sagen muss. Ich verwandle mich in einen unterdrückten, perfektionistischen Roboter, anstatt der zu sein, der ich bin: ICH.
(Anonym)

Manchmal befiehlt unsere instinktive Reaktion in einer neuen Situation: Sei nicht so, wie du bist.

Wer sonst könnten wir sein? Wer sonst möchten wir sein? Wir brauchen nicht anders zu sein, als wir sind.

Das größte Geschenk, das wir in eine Beziehung einbringen, ist: der zu sein, der wir sind.

Wir denken vielleicht, andere fänden uns nicht sympathisch. Wir haben Angst, ein Mensch könne uns verlassen oder beschämen, sobald wir loslassen und wir selbst sind. Wir machen uns Sorgen darüber, was andere von uns denken.

Die Menschen schätzen unsere Gesellschaft, wenn wir uns selbst akzeptieren und entspannt sind, nicht aber, wenn wir steif und gehemmt sind.

Wollen wir wirklich mit Menschen zusammen sein, die keinen Gefallen an uns finden? Müssen wir uns und unser Verhalten von der Meinung anderer abhängig machen?

Wenn wir uns die Freiheit nehmen zu sein, wer wir sind, üben wir damit eine heilsame Wirkung auf unsere Beziehungen aus. Der Umgangston wird entspannter. Wir entspannen uns. Der andere entspannt sich. Alle fühlen sich weniger gehemmt oder beschämt, da alle aufrichtig sind. Wir können nicht anders sein, als wir sind. So ist es uns zugedacht. So ist es gut.

Unsere Meinung über uns selbst ist wirklich das einzige, was zählt. Und wir können uns die Anerkennung zollen, die wir wünschen und brauchen.

Heute entspanne ich mich und bin in meinen Beziehungen so, wie ich bin. Ich tue das nicht in unangemessener oder herabsetzender Weise, sondern in einer Weise, die zum Ausdruck bringt, dass ich mich selbst annehme und mich als die Person schätze, die ich bin. Hilf mir, Gott, dass ich keine Angst mehr habe, ich selbst zu sein.

Mein Honig-Freund darf genau so sein, wie er ist. Wenn er sich in seinen Schleifen verstrickt, ist das sein gutes Recht. Wenn er da raus will, wird er einen Weg finden. (Ich unterstütze ihn gern, das habe ich ihm auch gesagt). Und wenn ich um fünf aufsstehe, weil ich keine Ruhe mehr finde, ist das auch in Ordnung. Das letzte, was ich brauche, ist dass mich jemand bewertet. Es bleibt die Frage: Was brauche ich? Und was brauchst Du?

Liebe Mailschreiberin,
bist Du besorgt, dass andere Menschen nicht aus ihren schädlichen Mustern aussteigen können? Ich hoffe, jeder kann sich verändern. Wenn die Zeit reif ist. Und mein Beitrag ist, ihn oder sie empathisch zu begleiten. ODER: Mich selbst auszudrücken. Mich. Und nicht etwa meins mittels Umgebungsdruck in den anderen hineinpressen. No, no!

So long!

Ysabelle

Das Glas Honig

Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Quelle: Erich Fried „Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte“, Berlin 1996

Hallo, Welt!
Dieser Tage hatte ich Besuch zum Mittagessen. Der Freund erzählte eine Geschichte aus seinem Leben, die mich sehr nachdenklich stimmte.
Seit rund 15 Jahren ist er von seiner Frau geschieden. Die beiden haben gemeinsame Kinder. Seine betagte Mutter pflegt nach wie vor den Kontakt zur Ex-Frau, denn sie ist auch die Mutter ihrer Enkelkinder. Die Ex-Frau hat einen neuen Partner, der Hobby-Imker ist. Vor einigen Monaten bekam der Freund von seiner Mutter ein Glas Honig geschenkt. „Ich konnte den Honig nicht essen. Ich wusste, woher der kam: Vom Lebensgefährten meiner Ex-Frau. Da war einfach immer der Gedanke an die Ereignisse, die zum Ende meiner Ehe geführt hatten, an Zeiten, in denen meine Bedürfnisse nach Vertrauen, Klarheit, Schutz, Sicherheit und Ehrlichkeit vollkommen unerfüllt waren“. (Ich hab das mal in Giraffisch übersetzt).
Bald darauf bekam der Freund von einer alten Dame, mit der er seit 20 Jahren geschäftlich zu tun hat, quasi zum Jubiläum ein Glas Honig geschenkt. „Und das konnte ich essen. Das war die Würdigung von 20 Jahren guter Zusammenarbeit, es war für mich ein Zeichen von Vertrauen und Wertschätzung…“

Und ich dachte: Mein Gott… es ist ein Glas Honig! In beiden Fällen ist es nur ein Glas Honig! Wenn wir die Etiketten tauschen, du würdest es nicht merken. Das alles passiert nur in deinem Kopf! Das eine Mal löst dieses Glas Honig angstvolle, schmerzhafte Erinnerungen aus, das andere Mal sind es warme, wertschätzende Gedanken. Der Honig ist doch nur der Auslöser. Ein Brotaufstrich, ein Naturprodukt, eine klebrige süße Masse im Glas mit Schraubdeckel. Es ist, was es ist: Ein Glas Honig. Alls andere machen wir uns selbst…
Ich bin dankbar, dass es mir in der konkreten Situation gelungen ist, dem Freund einfühlend zuzuhören, ohne ihn zu belehren. Jedenfalls hoffe ich, dass mir das gelungen ist. Noch immer kostet es mich Kraft, noch immer muss ich das Bewusstsein wie einen Allradantrieb zuschalten, um nicht zu sagen, „Alter, der Honig kann nichts dafür… du machst es dir unnötig schwer!“ Ich weiß heute: In diesen Situationen brauche ICH Einfühlung, um weiterhin beim anderen sein zu können. Vielleicht greift „Einfühlung“ zu hoch. Vielleicht ist es nur eine Form der Anerkennung meiner Gedanken zu dem Thema. Und dann kann es mir auch wieder gelingen, mich dem anderen mitfühlend zur Seite zu stellen. Eine spirituelle Übung.

So long!

Ysabelle

Wenn zwei das gleiche tun…

Duo cum faciunt idem, non est idem!
Terenz

Hallo, Welt!

Auf einer seiner CD’s erzählt Marshall, wie er auf schmerzhafte Weise lernen musste, dass sein Gegenüber stets nur der Auslöser für Gefühle ist. Er arbeitete damals in einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche. An zwei aufeinander folgenden Tagen bekam er in einem Handgemenge mit dem Ellenbogen einen über die Nase gezogen, doch seine eigene Reaktion war komplett verschieden. Einmal schäumte er vor Wut, das andere Mal war er geneigt, den Jungen, um dessen Ellenbogen es sich handelte, zu entschuldigen und zu verteidigen.

Im Nachspüren stellte er fest, dass er über jeden der beiden Jungen eine vorgefasste Meinung hatte. Er hielt den ersten für gemein und fies. Beim zweiten Jungen dagegen glaubte er, es sei eine tragische Gestalt. Und je nach Betrachtungsweise fiel auch nach dem Nasenstüber sein Urteil über den jeweiligen Jungen aus. Eine kraftvolle Demonstration dessen, dass unsere Gedanken unsere Gefühle beeinflussen.

Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe, besagt ein römisches Sprichwort. Auch ich knirsche gerade mit den Zähnen, weil zwei das gleiche tun und ich es in einem Fall schlecht ertragen kann.
Am Mittwoch plauschte ich nach der Übungsgruppe noch ein bisschen mit einigen Teilnehmern. Am Ende hörte ich den Satz: Danke, dass du mir das erzählst hast. Ich mache ja immer viel über das Gebet, und jetzt weiß ich, worum ich für dich beten kann.
Ich war sehr berührt und fühlte mich gesehen und von guten Wünschen begleitet. Der Satz war mir kostbar.

Am nächsten Tag entdeckte ich an anderer Stelle ebenfalls, dass für mich gebetet werden würde, aber es erfüllte mein Herz keineswegs mit Freude. Da stand dann an zwei verschiedenen Stellen:

Zitat
Ich wünschte das Ysabelle nicht immer in allen Beiträgen schreiben würde: (…) sondern das Gegenteil sagen und schreiben würde.
Aber es muss die Einsicht da sein, sie wird kommen.

Zitat
Ich habe nachgedacht ich werde lieber für Ysabelle beten, das bringt mehr als ihr zu schreiben, wen ich ihr schreibe wird sie wahrscheinlich aufgebracht sein.

Grundsätzlich tun hier zwei das gleiche: sie beten für mich. Aber einmal freue ich mich und bin berührt, das andere Mal hänge ich vor Wut unter der Decke.
Wenn ich dem nachspüre, was für mich den Unterschied macht, stelle ich fest: Mit der GfK-Freundin gab es Verbindung. Sie wollte zum Ausdruck bringen, dass sie jetzt mehr von mir verstanden hat und mich auf ihre Weise unterstützen möchte.

Die zweite Person hat keine Verbindung zu mir hergestellt, sondern ÜBER mich geurteilt. Dazu kommt, dass Person II im Moment noch der Ansicht ist, mir fehle es zur Zeit an Einsicht. Das erfüllt nicht meine Bedürfnisse nach Respekt, Wertschätzung, Verbindung und Anerkennung. Und unter diesem Aspekt tun vielleicht doch nicht beide das gleiche. Der eine hat sich mit mir verbunden, der andere hat über mich geurteilt.

Und ich?
Ich bin noch gefangen in meiner Wut und meinem Frust. Ich konnte formulieren, welche Bedürfnisse in mir unerfüllt sind. Aber eine Hand ausstrecken zum gemeinsamen Verstehen – das konnte ich noch nicht. Wie sagte Marshall: Die ersten 40 Jahre sind die schwersten.

Heute will ich mir bewusst machen, dass die Handlungen oder Unterlassungen anderer nur Auslöser meiner Gefühle sind. Mein Gegenüber ist nicht für meine Gefühle verantwortlich.

Gefühle sind nur Gefühle…

„Mit demselben Gefühle, mit welchem du bei dem Abendmahle das Brot nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexikaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.“
Heinrich von Kleist, An Wilhelmine von Zenge, 13.-18. September 1800

Das mit den Gefühlen ist so eine Sache.
Ich glaube, vor 15 Jahren wusste ich überhaupt nicht, was ich fühle. Ich wusste schon ziemlich genau, wer an was schuld war und dass in mir heftiger Aufruhr herrschte, aber was ich fühlte – keine Ahnung.
Dann habe ich angefangen, mehr über meine Gefühle zu lernen. Als besonders hilfreich habe ich die Einsortierung in Basisgefühle erlebt.
Freude
Liebe (ok, Marshall hält das für ein Bedürfnis, nicht für ein Gefühl)
Angst
Trauer
Schmerz
Wut (das gilt als Sekundärgefühl, auch ein spannendes Thema)
Scham (einige GfKler glauben, dass Scham kein Gefühl ist).

Man könnte sich jetzt mal den Spaß machen, und die unendlichen Gefühlslisten in diese Basisgefühle einsortieren. Der große Vorteil ist, dass Basisgefühle keine Interpretationsgefühle „zulassen“. Solche Perlen wie „provoziert“ verdampfen dann zu „Wut“ und „im Stich gelassen“ zu Schmerz. Gerade wenn man anfängt, seine eigenen Gefühle kennen zu lernen, ist es extrem hilfreich, sie erst mal runterzubrechen auf diese überschaubaren Kategorien, jedenfalls habe ich das so erlebt.

Der nächste Schritt ist dann, Auslöser und Gefühle fein voneinander zu trennen. Ich stelle immer wieder fest, dass der Schmerz nicht etwa durch ein Gefühl ausgelöst wird, sondern durch einen Gedanken. Beispiel: Ich mache Person A ein Geschenk. Als nächstes erfahre ich, dass Person A mein Geschenk sofort weiter gegeben hat.
Als ich diese Information Wochen später erhalte, spüre ich Schmerz. A hat etwas weiter gegeben, was von mir in Liebe geschenkt war.
Aber nicht das Weitergeben des Geschenks schmerzt, sonst hätte ich ja vor Wochen im Augenblick des Weitergebens vor Schmerz schreien müssen. Da habe ich aber gar nichts gemerkt. In dem Moment, in dem ich davon erfahre, spüre ich einen Schmerz, und dieser Schmerz wird ausgelöst durch meine Gedanken ÜBER das Geschehen. Vielleicht denke ich solche Sachen wie „ich habe mir so viel Mühe mit dem Geschenk gegeben und die Person geht damit so lieblos um“. In diesem fiktivem Fall identifiziere ich mich vielleicht mit dem Geschenk und „fühle“ (also: denke) mich zurückgewiesen, geringgeschätzt, klein, unbedeutend, ungeliebt. Alles das findet in meinem Kopf statt. Und der Mythos besagt, dass Gefühle eine überwältigende Macht sind, vor der man sich fürchten muss. Man wird „von Gefühlen übermannt“ oder überwältigt, man ist stumm vor Schreck oder Glück. bei genauerem Hinsehen ist es ganz häufig so, dass es eben nicht unsere Gefühle sind, sondern die Einschätzung unserer Gefühle.
Heute hörte ich, „ich fürchte, von meinen Emotionen überwältigt zu werden“, und mein erster Gedanke war: Und was passiert dann? Was ist daran schlimm? Was ist überhaupt schlimm an unseren Gefühlen? Warum müssen wir sie verbergen, warum werden wir so erzogen, Gefühle nicht zu zeigen oder nur „erwünschte“ Gefühle zu offenbaren. Warum sollen Frauen ihre Wut zurückhalten, während es bei Männern als normal gilt, wenn sie mit der Faust auf den Tisch hauen?
An guten Tagen kann ich spüren, dass meine Gefühle die Gemälde sind, die meine Innenwelt auskleiden. Ich bin nicht meine Gefühle. Ich kann meine Gefühle wahrnehmen wie ein kostbares Bild in einer Kunstgalerie. „Oh schau an, die Trauer! Wie düster sie daher kommt! Wie schwer und wie schleppend sie sich bewegt!“ Und dann kann ich überlegen, welche meiner Bedürfnisse im Mangel sind, dass diese Gefühle sich gerade auf solche Weise in meiner Kunstausstellung zeigen. Sie gehören zu mir, ich bin für sie verantwortlich. Ich habe es auch in der Hand, die inneren Räume zu lüften und neben das finstere Gemälde einen Fliederstrauß zu stellen. Sein betörender Duft gibt dem Bild einen neuen, bittersüßen Zusammenhang.

Heute will ich mir bewusst machen, dass mich meine Gefühle nicht beherrschen. Ich kann innerlich zurücktreten und sie wie ein Gemälde betrachten, sie bewundern oder weitergehen zum nächsten Bild.

Struktur

„Die Musikindustrie geht heute nicht nur an mangelnder Kreativität zugrunde, sondern vor allem an ihren autoritären Strukturen und ihrem planwirtschaftlichen Kontrollwahn, so lange, bis jeder seinen Mist dazu getan hat, und bis die ganze Band in einem Netz aus Verpflichtungen hängt.“
Marek Lieberberg, Interview, 2. Juli 2005, sueddeutsche.de

Ich bin für ein paar Tage aus dem Verkehr gezogen. Nach einer Operation erhole ich mich zu Hause. Und ich merke, dass meine gewohnte Struktur zusammenbricht. Normalerweise stehe ich ca. 6.15 Uhr auf, gehe um 7.50 Uhr zur Arbeit, komme gegen 20.15 Uhr nach Hause. Auch dann gibt es noch Termine, Aufgaben, „Verpflichtungen“. Diese recht starre Struktur erfüllt mir verschiedene Bedürfnisse, zum Beispiel nach Ordnung und Sicherheit, nach Sinnhaftigkeit und Teilhabe.
Jetzt bestimmen Arzttermine meine Struktur. Gestern Morgen um 9 Uhr in der Nachbarstadt, gestern Nachmittag um 14.30 Uhr bei einem anderen Facharzt vor Ort. Ich stelle mir einen Wecker, um pünktlich beim Arzt zu sein. Das erfüllt mich nicht mit der gleichen Befriedigung wie pünktlich am Schreibtisch zu sitzen.
Gesten Abend habe ich mit Bangen erkannt, dass meine gewohnte Struktur wegbricht. Und heute Morgen entdeckte ich bei mir den Glaubenssatz, dass bestimmte Strukturen richtig sind und andere falsch.
Vor ziemlich genau zehn Jahren erhielt ich im Beruf eine ziemlich umfassende Bewertung meiner Arbeit. Darin stand unter anderem, dass ich extrem strukturiert vorgehe. Ich war ziemlich perplex, denn in meiner eigenen Wahrnehmung war ich ein Chaot mit Stapeln von Papier auf dem Schreibtisch. Aufgrund der beruflichen Einschätzung habe ich angefangen, gelegentlich genauer hinzugucken, wenn es um Struktur geht. Dabei stelle ich fest, dass es mir in beruflichen Zusammenhängen fast immer gelingt, Termine einzuhalten. Ich kann Dinge gut organisieren. Ich verpasse fast nie einen Zug, obwohl ich täglich fahre, Ich kann gut priorisieren, also Entscheidungen treffen, was als nächstes gemacht werden muss. „First things first!“ heißt das bei den Anonymen Alkoholikern.
Jetzt bin ich krankgeschrieben. Heute hat gar kein Wecker geklingelt. Ich bin um sechs, um halb acht und um neun aufgewacht und dann schließlich aufgestanden. Gestern Abend habe ich von sechs bis acht geschlafen und war dafür bis Mitternacht wach. Und vorhin habe ich realisiert, dass mir das Angst macht. Ich höre mahnende Stimmen, die mich im Ballonseiden-Jogginganzug und der Bierdose auf dem Sofa sehen, vor mir einen vollen Aschenbecher. Wer nicht arbeitet, hat keine Struktur, lässt sich gehen, ist nichts wert…
Da sind die ja, all die gängigen Vorurteile über Arbeitslose. Ausgeliefert mit der Keule, dass nur Arbeit das Leben süß macht, und Nichtstun gleichbedeutend ist mit Nichtsnutz.
Ich merke, dass ich mir bisher in meinem Leben gar keine Chance gegeben habe, meine eigene Struktur zu finden. Struktur wird vorgegeben durch Arbeitszeitregelungen, Bahnverbindungen, Öffnungszeiten von Geschäften und Sprechstunden von Ärzten. Was wäre so schlimm daran, erst nachmittags um fünf anzufangen zu arbeiten und um Mitternacht Feierabend zu haben, selbstbestimmt, versteht sich. Wie wäre es, keine Fünf-Tage-Woche zu haben, sondern im Sommer viel zu arbeiten und im Winter kaum? Warum bin ich so kritiklos bereit, mich Rhythmen zu unterwerfen, die gar nicht meine sind? Und warum fühle ich mich schlecht, wenn ich diesem Taktschlag nicht folge?
Heute will ich meine Aufmerksamkeit darauf richten, meine eigene Struktur zu finden. Ich bin bereit, die Strukturen, die meine Umwelt mir anbietet, für mich in Frage zu stellen und mir zu vertrauen, dass ich all meine Angelegenheiten geregelt bekomme, auch wenn ich mich nicht nach den Strukturen anderer richte.

Berechtigung

„Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit.“
Alexander von Humboldt, Kosmos, Stuttgart 1845, Band 1, S. 36

 

Was für ein Wort: Berechtigung. Ich bin berechtigt. Der Herkunftsduden gibt nichts her über Ursprung und Bedeutung des Wortes, Aber auch als Laie kann ich erkennen, dass das Wort „Recht“ darin steckt. Ich habe ein Recht, etwas zu tun oder zu lassen. Recht – riecht das nicht auch schon wieder verdächtig nach Unrecht? Wenn ich berechtigt bin – wer erteilt mir dann diese Berechtigung? Aufgrund welcher Verdienste oder Eigenschaften bin ich berechtigt? Ich kann das auch ganz platt formulieren: Darf ich das?

 

Bei meinem Stöbern nach Informationen über dieses Thema fand ich ausgerechnet die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, hier eine Übersetzung von 1776.

 

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket. Zwar gebietet Klugheit, daß von langer Zeit her eingeführte Regierungen nicht um leichter und vergänglicher Ursachen willen verändert werden sollen; und demnach hat die Erfahrung von jeher gezeigt, daß Menschen, so lang das Uebel noch zu ertragen ist, lieber leiden und dulden wollen, als sich durch Umstossung solcher Regierungsformen, zu denen sie gewöhnt sind, selbst Recht und Hülfe verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen, auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt sie unter unumschränkte Herrschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen.“

 

Damals ging es um die Frage, ob die englische Krone das Recht habe, von den Kolonien Steuern zu erheben, ohne dass deren Einwohner im Unterhaus vertreten waren. Ganz so dramatisch war es bei mir an diesem Wochenende nicht. Es ging „nur“ um die Frage, ob ich an einer ausgesprochenen Einladung festhalten muss, obwohl das Verhalten meines Gastes meine Bedürfnisse nach Wertschätzung, Respekt, Vertrauen, Gemeinschaft und Verbindung in tiefsten Mangel brachten.
Ich hatte eingekauft und bei der telefonischen Feinabstimmung, wann es denn essen geben würde, gesagt, „wir grillen“. Als mein Gast mitbekam, dass ich von einem Elektrogrill sprach (ich habe keinen anderen), war er offenbar frustriert, entrüstet und genervt. Dann hörte ich die Worte: „Das kann man nicht essen. Dann werde ich nicht satt. Dann gehe ich hinterher zum Döner-Mann.
Ein Wort gab das andere ich ich zog schließlich meine persönliche Notbremse. OK, wenn dir das so widerlich ist, geh doch gleich zum Döner-Mann. Das wars mit der Einladung.

 

Später erfuhr ich dann, dass sich die ausgeladenen Gäste nun in der Nachbarschaft zum Essen verabredet hatten.
Bin ich berechtigt, jemanden auszuladen, den ich eingeladen hatte? Bin ich berechtigt die Hand zu heben und zu sagen, stop, so geht es nicht?
Ich wünschte, ich hätte einfach nur gesagt, stop, so geht es nicht. Dann wäre Raum für Verhandlungen gewesen. Stattdessen habe ich mich wie in Notwehr wahrgenommen. SO will ich mich nicht behandeln lassen. Und die einzige Lösung, die mir in dem Moment einfiel, war: Dann iss halt woanders. Beim Nachspüren merke ich, dass ich nicht so tief mit meinen Gefühlen verbunden war wie ich es mir rückblickend wünschen würde. Ich habe nichts über meine Gefühle und Bedürfnisse gesagt, sondern habe eine Tür zugeknallt. Ich bin verantwortlich für mein Tun und mein Unterlassen. Bin ich berechtigt zu sagen: So nicht mit mir?

 

Intellektuell weiß ich, dass ich dazu berechtigt bin. Aber es fühlt sich nicht so an. Mein eigenes Verhalten erfüllt nicht mein Bedürfnis nach Verbindung, Gemeinschaft, Vertrauen, Sicherheit und Respekt anderen Menschen gegenüber. Das ist schwer auszuhalten. Als ich mich in dieser Situation so verhalten habe, waren meine Bedürfnisse Schutz, Respekt, Selbstvertrauen und Authentizität. Und das fühlte sich so dringend an, dass in dem Moment kein Raum war für die Bedürfnisse der anderen Seite.
Ich bin berechtigt, meine eigenen Grenzen zu setzen. Ebenso bin ich berechtigt, mit den Folgen umzugehen. Und andere haben die gleichen Rechte.

Das Schlusswort stammt aus der heutigen Tagesmeditation von Melody Beattie:

Heute werde ich nach meiner eigenen Wahrheit suchen und zulassen, dass andere sich auf ihre Suche begeben. Ich werde meinen Auffassungen und denen der anderen Beachtung schenken. Wir alle befinden uns auf der Reise zu unseren eigenen Entdeckungen – die heute für uns richtig sind.

Fett und faul

HORATIO
Er kommt ganz außer sich vor Einbildung.

MARCELLUS
Ihm nach! Wir dürfen ihm nicht so gehorchen.

HORATIO
Kommt, folgen wir! Welch Ende wird dies nehmen?

MARCELLUS
Etwas ist faul im Staate Dänemarks.

Hamlet, Drama von William Shakespeare, 1. Akt, 4. Szene.

 

 

Dieser Tage hatte ich Gelegenheit, länger mit einer Frau zu sprechen. Wir saßen bei einem Geschäftsessen nebeneinander und teilten auch das Frühstück am nächsten Morgen.
Ich war ziemlich durchgeschüttelt, denn sie ließ an sich selbst kein gutes Haar. Îch bin so fett geworden“, sagte sie. Die Beobachtung meinerseits dazu war, dass sie einen ziemlichen Hüftumfang hatte und wahrscheinlich Kleidergröße 48 oder 50 trägt. Ihr Gesicht war schmal, ebenso ihre Unterarme und ihre Hände. Wir sprachen ein bisschen über Gewicht und Selbstwahrnehmung. Dann kamen wir auf ein neues Thema, und sie erzählte, „ich bin so faul“. Die Beobachtung dazu war, dass sie nach einem langen Arbeitstag keine Energie mehr hatte, bei sich zu Hause längere Zeit Hausarbeiten zu verrichten. Wäsche und Putzen bleiben bis zum Wochenende liegen.

Die meisten von uns haben eine Richtschnur eingebaut, wie wir sein sollten, was wir tun müssen, damit wir ok sind, akzeptiert, geliebt werden. Wie-Worte, Adjektive beschreiben diesen erwünschten Zustand. Fleißig, pflegeleicht, atttraktiv, anständig, sparsam und sportlich. Abweichungen von diesem Bild werden mit Selbstabwertungen gestraft.

All diese Bewertungen lassen eines außer acht: Unsere Gefühle.
Ich glaube, unsere Gefühle sind älter als unsere Bewertungen. 157680 Stunden vergehen beim Menschen von der Geburt bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres. In dieser unfassbaren Zeit lernen wir täglich: Das ist richtig, das ist falsch. Wenn du das machst, hat Mami dich nicht mehr lieb und Papi schimpft mir dir. Und nur in Ausnahmefällen lernen wir: Wie geht es mir, wie geht es dir? Was brauche ich, und was brauchst du?
Das Denken in den Kategorien von Richtig oder Falsch trägt dazu bei, dass wir uns von unseren Gefühlen entfernen. Nach den Maßstäben unserer Eltern, der Gesellschaft, des Chefs oder der Partnerin zu leben heißt auch, von uns selbst und unserem inhärenten Wert entfremdet zu sein. Wir sind von Natur aus richtig, liebenswert, perfekte Wesen, egal was wir auf die Waage bringen, wie oft wir putzen oder zum Sport gehen.

Heute will ich auf die Wie-Worte in meinem Leben achten. Viele beinhalten eine Wertung. Ich bin bereit, sie in Gefühle und Bedürfnisse zu übersetzen und meine eigenen Maßstäbe zu finden.

Sei so, wie du bist

Heute entspanne ich mich und bin in meinen Beziehungen so, wie ich bin. Ich tue das nicht in unangemessener oder herabsetzender Weise, sondern in einer Weise, die zum Ausdruck bringt, dass ich mich selbst annehme und mich als die Person schätze, die ich bin. Hilf mir, Gott, dass ich keine Angst mehr habe, ich selbst zu sein.

Melody Beattie, Kraft zum Loslassen vom 5. März

Am 17. Februar hatte ich dieses Thema angefangen. Ausgelöst wurde das Posting durch die Erzählung einer Freundin. Sie erinnerte sich an ein Geschehen aus Kindertagen, als jemand in einer bestimmten Situation zu ihr sagte „Und jetzt kommst du noch mal zur Tür herein und sagst es noch mal.“

Irgendwas kam dazwischen und so fand ich heute nur die Überschrift und diesen ersten Teil der Geschichte vor, verbunden mit dem Stichwort Augenhöhe, aber ich konnte die Originalgeschichte nicht abrufen. Das macht nichts, denn heute hatte ich selbst ein „Sei so wie du bist“-Erlebnis,

Heute habe ich eine Nachricht an jemanden geschrieben, den ich kaum kenne. In diesen Zeilen habe ich deutlich gesagt, wie es mir mit einer bestimmten Situation geht und was für mich wichtig ist.

Später habe ich die Nachricht kopiert und an eine Freundin geschickt mit der bangen Bitte um Mitteilung, ob ich zu forsch gewesen sei.
Das bestätigte sie mir gern. Ja, das war ein bisschen forsch.

In meinen freien Minuten habe ich seither gegrübelt, warum ich die Freundin um ein Urteil bitte und ihr selbst schon meines anserviere.
Und ich kam zu dem Ergebnis, dass ich Angst habe, nicht gut genug zu sein, dass mit mir, an mir etwas falsch ist. Ich soll, ich darf nicht so sein wie ich bin, weil andere mich dann vielleicht doof, forsch, kleinlich, albern oder sonstwas finden. Ich muss mich in meinem Verhalten danach ausrichten, bei anderen möglichst gut anzukommen.

Puh. 2007 habe ich mit GfK angefangen und ich betreibe es sehr ernsthaft. Und dann finde ich auf einmal diese alten Glaubenssätze, die mir so viel Schmerz verursachen. Und ich verstehe: Wenn ich mich selber auf diese Weise in Frage stelle, bewege ich mich nicht auf Augenhöhe mit meinem Gegenüber. Wenn ich mich nicht traue, mich so zu zeigen wie ich bin, mache ich mich klein und räume dem anderen Macht über mich ein. Macht über mich zu urteilen, mich richtig oder falsch zu finden. Wie will mich doch der GfK-Autor Kelly Bryson ermutigen? Sei nicht nett, sei echt!

Heute will ich mir ins Gedächtnis rufen: Mit mir ist nichts falsch. Ich darf genau so sein, wie ich bin. Wenn andere mein Verhalten schwer nehmen können, liegt das nicht in meiner Verantwortung. Ich bin verantwortlich mein mein Tun und mein Unterlassen, aber nicht für die Urteile anderer.

Die Farbe des Grolls

Die Bezeichnung Groll für „Zorn, Wut“ geht auf das 14. Jahrhundert zurück und gehört zu dem unter grell dargestellten Stamm, bezieht sich aber ursprünglich auf eine wütende Lautäußerung. Dazu die Ableitung „grollen“murren, missmutig sein, die auf das Mittelhochdeutsche grollen zurückgeht und verwandt ist mit dem altenglischen gryllan, mit den Zähnen knirschen, zornig sein.
Wahrig Herkunftswörterbuch

Wenn ich Gefühlen Farben zuordnen wollte, wäre Wut hellrot und flüssig. Zorn wäre dunkler rot und dickflüssig. Und Groll wäre rotschwarz wie gestocktes Blut und zäh.

Freitag bekam ich einen Anruf, in dem jemand seine Bedenken bezüglich eines Plans zum Ausdruck brachte. Ich spürte so heftige Gefühle in mir, dass ich nicht nur dem Anrufer gegenüber wenig höflich war, sondern auch kaum wusste wohin mit mir. Ich erinnerte mich irgendwann an Marshalls Erzählungen über John, mit dem er in einem schwedischen Gefängnis arbeitete. John hatte einen Antrag auf eine Ausbildung gestellt und drei Wochen keine Antwort von der Gefängnisleitung bekommen. „What are you telling yourself?“, fragte ihn Marshall, und John schnaubte, „I’m not telling me anything…“. Doch auf Nachfragen stellte sich heraus, dass John unter anderem glaubte, „für die Gefängnisleitung sind wir nur ein Haufen Nichts und unsere Bedürfnisse interessieren sie überhaupt nicht“. Und diese Gedanken lösten bei John eine gehörige Wut aus.
Nach dem Telefonat am Freitag fragte ich mich schließlich: Was erzählst du dir selbst über dieses Gespräch? Und ich hörte von mir Sachen wie „die trauen uns nichts zu. Die wollen immer über alles bestimmen.“ Und je länger ich mir zuhörte, desto mehr erkannte ich, dass ich an einen alten Groll gekommen war. Obenauf lag Wut, hellrot, frisch und sprudelnd. Aber darunter war ein schwarzer Groll aus Kindertagen, als ich den Menschen in meinem Umfeld scheinbar machtlos ausgeliefert war, als meine Meinung nicht zählte.
Mühsam gelang es mir, die schönen Absichten der Gegenseite wenigstens zu ahnen. Beitragen, Unterstützung, Weitergabe von Erfahrungen, Leichtigkeit, Harmonie…
Mit diesen Gedanken merkte ich, dass es für mich leichter wurde, meinen ursprünglichen Plan loszulassen und die Argumente der anderen Seite zu schätzen und einzubeziehen. Ich spürte Erleichtung, Respekt und so etwas ähnliches wie Verbindung.
Zu meiner Überraschung fand ich heute Morgen eine Mail in meinem Briefkasten, in dem unserem Organisations-Team vollkommen freie Hand bei der Ausführung gelassen wurde.
Wunder gibt es immer wieder, wenn ich bereit bin, mein Denken zu verändern.

Heute bin ich bereit, Angriffsgedanken genauer zu betrachten und loszulassen.

Feindbilder

„Damit Kampf sei, muss es einen Feind geben, der widersteht, nicht einen, der gänzlich zugrunde geht.“ –
Petrus Abaelardus, Ethica

Ich habe kein Fernsehbild mehr.
Die erste Vermutung: Schnee in der Schüssel. Der Monteur war da und maß die Anlage durch, stellte schließlich die Diagnose: LNB in der Schüssel kaputt, ein wichtiges Bauteil für den Empfang von Programmen. In einem ersten Gespräch suchten wir Lösungen. Dann hieß es: Der Hubwagen kommt nächste Woche, fährt einen Monteur aufs Dach, das LNB wird ausgetauscht, fertig.
Doch nach und nach gab es weitere Informationen, die mich mehr und mehr irritierten. Der Hubwagen muss auf der gegenüberliegenden Straßenseite verankert werden, also muss die Straße gesperrt werden. Verwaltungsgebühr: 30 Euro. Absperrkosten durch die zuständigen Autoritäten: 75 Euro (für Selbstabholer mit Kleinlaster kostenlos…). Hubwagen pro Stunde: 80 Euro. Plus Monteurzeit, versteht sich. Geplante Dauer des Einsatzes. Ca. 90 Minuten…
In einem Telefonat machte ich gestern deutlich, dass ich mir eine andere Lösung wünsche, da die Kosten von mindestens 260 Euro ohne einen Handschlag mir zu hoch sind. Mein Gesprächspartner argumentierte, es ging hoch her am Telefon und wir verabredeten uns für heute früh erneut.
Ich schlief sehr unruhig, war schon im Traum auf Krawall gebürstet. Der soll nur kommen… andere sind auch an die Schüssel gelangt, ohne einen Hubwagen zu benutzen… Abzocke… die sind nur zu faul, auf die Leiter zu steigen… und kurz bevor der Monteur eintraf, wollte ich schon nach anderen Firmen im Internet gucken, um gleich eine Alternative zu haben.
Zum Glück gab es einen Moment der Besinnung und der Selbstempathie. Wie geht es mir, was brauche ich? Die Tatsache, dass ich ein regelrechtes Feindbild aufgebaut hatte, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass wichtige Bedürfnisse im Mangel waren. Ich fand Effizienz, Kosteneffizienz. Kreativität. Da muss es doch eine andere Lösung geben. Selbstvertrauen. Wenn mir mit einer Lösung nicht wohl ist, darf ich es sagen und Gehör finden. Und ich finde auch eine Lösung, die mir besser schmeckt. Unterstützung mit dieser Schüssel war mir wichtig. Und ich wollte gern darauf vertrauen, nicht mit einer hohen Rechnung über den Tisch gezogen zu werden.
Nachdem mir meine Bedürfnisse klarer waren, konnte ich darüber nachdenken, welche Bedürfnisse wohl der Monteur hatte. Leichtigkeit, fiel mir ein. Und Sicherheit. Im Korb eines Hubwagens lässt sich wahrscheinlich bei diesem Wetter entspannter arbeiten als auf einer Leiter.
Als der Monteur eintraf, hatte ich einen Kaffee für ihn fertig. Gemeinsam begutachteten wir den Weg zur Antenne vom Balkon aus. Wir diskutierten auch, die Schüssel zu versetzen. „Ich habe verstanden, dass Sicherheit für Sie ein wichtiger Aspekt bei der Ausführung dieser Arbeit ist. Auch mir ist es ein Anliegen, dass hier niemand zu Schaden kommt. Welche Alternativen kann es zum Hubwagen geben?“
Es war, als hätte es nie zwei Meinungen gegeben. im Nu war eine neue Lösung gefunden. Mit einer langen Spezialleiter werden zwei Mann mir kommende Woche aufs Dach steigen, vorausgesetzt, es schneit nicht inzwischen oder es regnet am fraglichen Tag.

Heute will ich aufmerksam werden, wenn ich in einem Gegenüber einen Feind zu sehen glaube. Ich verbinde mich mit meinen Bedürfnissen und bin bereit, mich neuen Lösungen zu öffnen.

In den schönen Absichten gesehen werden

„Das Ziel des Dialogs ist nicht Unterwerfung und Sieg, auch nicht Selbstbehauptung um jeden Preis, sondern gemeinsame Arbeit in der Methode und in der Sache“.
Richard von Weizsäcker, Geschichte, Politik und Nation. Ansprache des Bundespräsidenten auf dem Weltkongress der Historiker in Stuttgart 1985

Vor einem Jahr habe ich eine einwöchige Kreuzfahrt gemacht, die mir eine Fülle von Bedürfnissen befriedigte: Leichtigkeit, Entspannung, Schönheit, Wärme (im Januar um die Kanaren), Selbstständigkeit, Autonomie, Spiel, Wertschätzung meiner selbst, Harmonie, Berührung und Begeisterung fallen mir dabei spontan ein. Später im Jahr sprach ich mit meinen Eltern, die aus gesundheitlichen Gründen schon lange keinen Urlaub mehr gemacht haben. Ich erzählte, dass auf dem Schiff aus diverse Rollstuhlfahrer unterwegs waren, schwärmte von den tollen Möglichkeiten an Bord und der Ruhe, wenn die Mitreisenden auf Landausflug sind. Und ich fragte sie, ob wir nicht einmal zusammen eine Kreuzfahrt unternehmen wollten, zum Beispiel ab Hamburg nach Norwegen und zurück nach Hamburg. Die Kreuzfahrt erschien mir dabei als eine mögliche Strategie, ihnen einen unkomplizierten Urlaub zu ermöglichen, ich wollte Unterstützung, Gemeinschaft, Nähe, auch ein Stück weit Autonomie für die beiden, Leichtigkeit, Begeisterung, Abwechslung und Schönheit in ihr Leben bringen.
Die Reaktion haute mich komplett aus den Puschen. Es gab eine Kanonade an Urteilen, warum eine Kreuzfahrt unter keinen Umständen der geeignete Urlaub für die beiden wäre. Angefangen von der komplizierten Anreise per Flugzeug (der Hamburger Hafen ist 60 Autominuten von meinen Eltern entfernt), den engen Kabinen, in denen man sich nicht bewegen könne, die Hitze (in Norwegen?) und die Menschenmassen, denen man ständig ausgesetzt sei, und die festgelegten Essenszeiten in Gala-Kleidung.
Zum einen frustrierte es mich, dass hier mit Argumenten hantiert wurde, die nicht stimmten (zum Beispiel die Anreise), und dass Gründe angeführt wurden, die einfach auf mangelnder Sachkenntnis (Kabinengröße, Essenszeiten etc.) beruhten.
Ich habe dann auf Empathiemodus geschaltet und zurückgemeldet, was bei mir angekommen ist. Damit war das Thema für mich erledigt.
Dieser Tage machte mein Vater in ganz anderem Zusammenhang die Bemerkung, „und das ist ja auch der Grund, warum wir keine Kreuzfahrt machen“, und sofort war es wieder da, das bittere Gefühl. Diesmal spürte ich ihm länger nach und stellte dabei fest, dass ein wichtiges Bedürfnis von mir im ganzen Dialog zu diesem Thema komplett unerfüllt geblieben war: Das Bedürfnis, in meinen schönen Absichten gesehen zu werden. Was für wundervolle Bedürfnisse wollte ich ihnen gern erfüllen! Kein Problem, wenn sie die Strategie (Kreuzfahrt) nicht mögen. Aber mir hätte es verdammt gut getan, wenn sie einmal gesagt hätten, oh, wie schön, dass du mit uns in den Urlaub fahren würdest, um es für uns leichter zu machen… Wie nett von Dir, dass du uns ein bisschen Abwechslung ermöglichen möchtest. Anscheinend ist das ein wichtiges Thema: in meinen schönen Absichten gesehen zu werden. Ich kann die Absicht meines Gegenübers wertschätzen und würdigen, ohne die vorgeschlagene Strategie für mich anzunehmen. Damit stärke ich die Verbindung, ohne meine Autonomie oder meine Werte aufzugeben.
Wenn ich heute in einen Dialog trete, will ich mir bewusst machen, welche schönen Absichten sich mein Gegenüber mit seinen Anregungen erfüllen möchte und will sie wertschätzen.

Ich müsste, ich hätte, ich sollte…

The heart is not just a pump. It’s the seed of your two primary desires. “I SHOULD do” and “I LOVE to do.”
One is robotic and yields resentment. The other is free-willing and grows gratitude.
Risk, today, and pursue your healthy passions at whatever cost.

Yehuda Berg, Kabbalah Daily vm 8.2.2011

In diesen Tagen hatte ich viel Gelegenheit, mich mit einer Kollegin auszutauschen. Zum ersten Mal ist es mir aufgefallen, wie häufig wir in unserer Sprache bestimmte Wendungen benutzen, die implizieren, dass etwas mit uns nicht stimmt. „Ich hätte den Tauchsieder einpacken sollen“ oder „ich hätte es wissen müssen“ oder „ich sollte … machen“. „Ich müsste mal meinen Kleiderschrank entrümpeln“. Mit ganz vielen Bedürfnissen dahinter konnte ich mich spontan verbinden. Mein Kleiderschrank könnte zum Beispiel auch eine Entrümpelungsaktion gebrauchen. Gleichzeitig wurde mir deutlich, dass all diese „ich müsste… ich hätte… ich sollte“ ein Anzeichen dafür sind, dass ich mit meinem Tun und Handeln nicht zufrieden bin. Die Energie, die dabei fließt, ist jedoch nicht die Energie des Bedauerns, die die Chance zum Wandel mit sich bringt, sondern die des Richtig oder Falsch. Und der Sprecher ist nicht im Hier und Jetzt.

„Ich habe meinen Urlaub voriges Jahr verdaddelt und häte mir an dieser Stelle zwei Tage weniger nehmen sollen, um später diese Reise machen zu können“ führt in meinen Augen nur dazu, sich selber für eine Entscheidung niederzumachen, die man ursprünglich nach bestem Wissen getroffen hatte. Als die Kollegin sich entschied, sich zu Hause ein paar Erholungstage zu gönnen, ahnte sie nicht, dass es zu einem späteren Zeitpunkt ein Angebot geben würde. dass sie sehr begeistert. Wir können aber nur Entscheidungen für das Heute treffen, das Morgen liegt nicht n unserer Hand.
Heute will ich mich dafür entscheiden, die Dinge zu tun, die ich liebe, und nicht die Dinge zu tun, die ich machen müsste.

Vergebung

„Als Gott mir vergeben hat, dachte ich mir, ich sollte das vielleicht auch tun.“
Johnny Cash, im Interview mit Kurt Loder, MTV, August 2003, drei Wochen vor seinem Tod, mtv.com.

Heute tauschte ich mich mit jemandem aus, der sagte, „ich habe das Bedürfnis nach Vergebung“.
Spontan dachte ich, das sei ein Wortschätzchen. Was fühlt jemand, der von sich sagt, er brauche Vergebung? Ich vermute, derjenige spürt Schmerz, Einsamkeit und Scham. Er ist vielleicht bedrückt oder beklommen, besorgt, mutlos, schwer, sorgenvoll, unter Druck und unbehaglich. Und die unerfüllten Bedürfnisse könnten nach Verbindung, Zugehörigkeit, Vertrauen, Gesehen/gehört werden, Verständnis, Verstehen, Leichtigkeit, Ritual, Harmonie und Spiritualität sein.
Doch dann merkte ich, dass es damit noch etwas anderes auf sich hat.

Vergebung – das glaube ich zu brauchen, wenn ich etwas FALSCH gemacht habe. Wenn ich etwas getan oder unterlassen habe, von dem ich zu der Bewertung komme, dass ich es besser nicht getan hätte.
Das genau ist aber die Crux. Hätte, sollte, wollte, könnte – da bin ich in Nimmerland oder sonstwo, aber nicht im Hier und Jetzt. Dabei ist das Hier und Jetzt die einzige Zeit, die ich beeinflussen kann. Die Vergangenheit ist vorbei, ich kann sie nicht verändern. Welchen Nutzen hat es also, im Nachhinein Dinge als Richtig oder Falsch einzusortieren?
Was genau heißt eigentlich Vergebung?
Wenn Eltern ihrem „unartigen“ Kind vergeben, sind sie anschließend „wieder gut“. Im christlichen Sinn sind wir aufgefordert, unsere Sünden zu bereuen, Buße zu tun und gegebenenfalls Wiedergutmachung zu leisten, um wieder in Gnaden in den Schoß der Kirche oder der Gemeinde zurückkehren zu dürfen. Dann wird mir vergeben. Gleichzeitig heißt es in der christlichen Mythologie, Jesus sei gestorben, auf dass unsere Sünden vergeben seien. Da ist nicht mehr die Rede davon, dass wir dafür noch extra etwas leisten müssen.
Ich brauche Vergebung?
Mein Schicksal liegt dann komplett in den Händen anderer. Sie entscheiden, ob wir wieder „mitspielen“ dürfen oder nicht. Sie entscheiden nicht etwa nur über sich – mit wem SIE spielen wollen – sondern eben auch über uns, wenn wir glauben, ihre Vergebung zu brauchen.

Wenn ich also glaube, Vergebung zu brauchen, bin ich in einer Welt von Schuld und Sühne, von Richtig oder Falsch. Dann bin ich abhängig von dem was du tust oder von mir denkst. Ich räume dem anderen Macht über mich ein. Ich unterwerfe mich seinem Urteil, seiner Vergebung oder seiner Verdammnis.
Heute will ich mich so akzeptieren wie ich bin, Wenn ich mit meinem Verhalten anderen einen Schmerz zugefügt habe, mache ich mir bewusst: ich bin verantwortlich für mein Tun und mein Unterlassen. Was den anderen schmerzt, fällt nicht in meinen Vantwortungsbereich.

Unter Indianern

„Auch der Indianer ist Mensch und steht im Besitze seiner Menschenrechte; es ist eine schwere Sünde, ihm das Recht, zu existieren, abzusprechen und die Mittel der Existenz nach und nach zu entziehen.“
Karl May, Ein Ölbrand, in: Das Neue Universum, 1882, S. 3

Dieser Tage hatten wir eine Teambesprechung über die neuen Arbeitsabläufe, die für jeden eine große Umstellung mit sich bringen. Fünf Indianer, ein Unterhäuptling und ich saßen zusammen, um zu beraten, was das konkret für Veränderungen zur Folge hat. Einer der Indianer wies nach Blick auf das Organigramm darauf hin, dass es so aussähe, als würde sich sein Arbeitsaufkommen demnächst um 25 Prozent steigern. Der Unterhäuptling erläuterte, warum diese Ansicht falsch sei. Ich nahm ihn ärgerlich, frustriert und irgendwie aufgeregt wahr. Er zog ein Argument nach dem anderen herbei, doch die Miene des Indianers hellte sich nicht auf.

Nach dem Team-Meeting hatte ich Gelegenheit, mich mit dem Unterhäuptling auszutauschen. „Das ist doch alles gut gelaufen“, freute er sich. „Das haben wir doch prima hingekriegt“. Ich wies darauf hin, dass der Indianer Sorgen hatte und ich nicht glaubte, dass dessen Bedenken zerstreut worden seien. Ich hätte es besser gefunden, ihm erst Empathie für seine Bedenken zu geben.
Der Unterhäuptlung sagte erregt: „Erst mal losmotzen, bevor er alle Fakten hat. Ich weiß, dass das zu schaffen ist, ich habe das auch schon gemacht…“
Und mir wurde deutlich: Ich kann einem anderen keine Empathie geben, wenn ich selber welche brauche.
Der Unterhäuptling hätte (ebenfalls) Einfühlung gebraucht, als er die Worte des Indianers hörte. Diesen Aspekt hatte ich aus dem Auge verloren, als ich ihn bat, einfühlsam auf den Indianer einzugehen.

Heute will ich mir bewusst machen, dass ich nur Empathie geben kann, wenn ich selbst gerade nicht bedürftig bin. Empathie ohne Selbstempathie ist Co-Abhängigkeit.

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