Gefühle erkennen
„Das Maß unserer Menschlichkeit bestimmt sich wesentlich danach, inwieweit wir über Worte verfügen, die das Erleben und die Gefühlswelt von Menschen auszudrücken vermögen.“
Eugen Drewermann, An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen
Neulich habe ich mit einem Ehepaar gearbeitet, das Schwierigkeiten hat, sich auszutauschen. Die Frau erzählte etwas und ich fragte den Mann, der mit der schon oft erwähnten kleinen Liste da saß: Welche Gefühle nimmst du bei Gudrun wahr? Suchend ging sein Blick die „Gefühle bei unerfüllten Bedürfnissen“ durch, dann nannte er „frustriert, traurig, ängstlich, einsam und besorgt“. Ich fragte seine Frau: „Hat Heinz deine Gefühlslage erkannt?“ Gudrun sagte, „ja, aber das zählt nicht. Er hat ja abgelesen!“
Viele von uns sind nicht sehr geübt darin, Gefühle zu benennen. Frauen fällt es aufgrund ihrer Erziehung meist noch etwas leichter als Männern. Und oft benennen wir vermeintlich Gefühle und geben stattdessen eine Bewertung ab. Beispiele: Ich fühle mich nicht Ernst genommen. Ich fühle mich missbraucht, ich fühle mich vernachlässigt. Die Gefühle hinter diesen Einschätzungen sind vielleicht Schmerz, Einsamkeit, Ohnmacht oder Angst.
Ich habe ein paar Jahre damit zugebracht, meine Gefühle in sechs simple Kategorien einzuteilen, und in diesen Kategorien gab es keinen Platz für Bewertungen. Diese so genannten Basisgefühle sind Freude, Liebe, Schmerz, Trauer, Wut, Angst und Scham. Es ist schon erstaunlich, dass unser ganzes Spektrum an Gefühlen sich in diese wenigen Oberbegriffe einordnen lässt. Mir hat dieses Schubladendenken geholfen überhaupt erst einmal wahrzunehmen, WAS ich fühle. Ich war zwar wie ein Huhn ohne Kopf unterwegs, aber was ich gefühlt habe, war mir ein Rätsel, und statt Gefühlen äußerte ich Bewertungen oder Schuldzuweisungen: ich bin traurig, weil du keine Zeit für mich hast.
Das Erkennen unserer eigenen Gefühle ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der Gewaltfreien Kommunikation. Und alles, was uns dabei hilft, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen, können wir zu Rate ziehen. Das gilt auch im Kontakt zu anderen. Schon mehr als einmal konnte ich feiern, wenn mein Gegenüber mithilfe einer einfachen Liste erkennen konnte, was in einem Dritten lebendig war, und plötzlich wieder Verbindung möglich wurde. Das „Ablesen“ wird die Tür zum Herzen des anderen.
Heute will ich einfach nur aufmerksam sein, welche Gefühle ich bei mir selbst wahrnehme. Wenn ich meine Gefühle erkannt habe, widme ich mich den Gefühlen meines Gegenübers.