Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Es geht noch tiefer

Hallo, Welt!
Vor ein paar Monaten hatte ich jemandem ein Anliegen vorgetragen und es gab einen Termin, an dem wir das klären wollten. Doch trotz meiner Nachfragen fand sich letztlich am vorbestimmten Termin keine Zeit, darüber zu reden.
Ich war „heartbroken“, aufgelöst, in Kontakt mit tiefem Schmerz. Mein Gegenüber realisierte erst jetzt, wie viel mir der Termin bedeutet hatte. Er nahm mich in den Arm, drückte sein Bedauern aus. Allein, die Botschaft kam nicht bei mir an, weil ein gelerntes Muster nicht bedient wurde. Die Person hatte doch etwas „falsch“ gemacht, wieso guckte sie jetzt so – unbeteiligt? Ich vermisste so etwas wie den Ausdruck von Schuldgefühlen. Wie ein geschlagener Hund. So guckte man doch, so verhielt man sich doch, wenn man etwas „versäumt“ hatte, oder? Irgendwie fiel es mir schwer zu glauben, dass dieser Mensch wirklich ein Bedauern dazu hatte, dass unsere Verabredung nicht wie besprochen zustande gekommen war.

Ich versuche zur Zeit eine Angelegenheit in meinem Leben zu handhaben, damit einen angemessenen Umgang zu finden, die sehr schwierig für mich ist.
Gestern bekam ich zwei Mails, die intensive Gefühle bei mir auslösten. Obwohl es da nicht stand, las ich, du bist nicht authentisch, dein Verhalten ist nicht kongruent mit den von dir verkündeten Werten, du hast mir Schmerz zugefügt, ich weiß nicht, in welchem Rahmen ich mit jemandem wie dir noch Verbindung haben möchte, und ich kann das aus verschiedenen Gründen auch jetzt nicht klären.
Im ersten Moment fühlte es sich an, als sei ich gegen einen Schrank gelaufen.
im Verlauf der nächsten Stunden lüftete sich dann Schleier um Schleier. Relativ bald konnte ich feststellen, dass diese oben zitierten Worte da wirklich nicht standen. Ich erkannte also, dass das, was da stand, in mir eine Resonanz auslöste. Es war direkt ein Fahrstuhl in meine Kindheit. „Du warst nicht lieb, und jetzt überlege ich mir mal, ob ich dir verzeihe und dich wieder in Gnaden aufnehme. So eine Tochter will ich nicht haben!“
– Zwischenfrage: Kennt das einer von Euch? –
Im nächsten Schritt war es wie der Blick auf ein Vexierbild:
Mal war ich „im Recht“, mal machte ich mir die Gedanken und Urteile meines Gegenübers zu eigen. Du bist scheiße, ich bin scheiße, immer schön im Wechsel. Am meisten verblüffte mich immer wieder der Blick auf die Zeilen in der Mail. Da stand etwas, und das was ich fühlte, war etwas ganz anderes. Die Zeilen waren der Auslöser, sie schufen eine Verbindung zu abgespeicherten Erinnerungen, zu alten Verletzungen, zu eingelagerten Schmerz- und Schuldgefühlen, die plötzlich aktiviert wurden. Ich las gestern einen Artikel über das Schmerzgedächtnis, und wie sich die Nerven verändern und dann Sachen weh tun, die gesunden Menschen eben nicht weh tun, und ich vermute, so was ist es hier auch. In meiner Vergangenheit ist ein Schmerzgedächtnis entstanden, und wenn heute nur eine Feder darauf fliegt, tut es weh. Aber dafür ist nicht der Auslöser verantwortlich. Es ist einfach nur eine Einladung, genauer hinzuschauen. Dann kann mein Blick unschuldig werden, wenn mich jemand mit seinem Schmerz konfrontiert. Dann bin ich in der Lage zu hören: Ich habe ein brennendes unerfülltes Bedürfnis! Dann fährt mich nicht mehr der Fahrstuhl in die Grabkammer meiner Kindheit, in der ich glaubte, sterben zu müssen, wenn mich der andere nicht in Gnaden wieder aufnimmt. Dann kann endlich Schluss sein mit Wohlverhalten, nur um das Bild einer Beziehung nicht zu gefährden, das ich als Kind abgespeichert habe. Dann finde ich zu tiefer Authentizität und Kongruenz und echtem Mitgefühl. Gestern gab es davon einen Vorgeschmack.

So long!

Ysabelle

2 Reaktionen zu “Es geht noch tiefer”

  1. MarkusC

    Oh ja, diese Art behandelt zu werden kenne ich gut…ich habe in meiner Ausbildung mal in einem Jugendheim gearbeitet und mir wurde sogar beigebracht, die Jugendlichen bei Regelverstößen so zu behandeln, sie zappeln und um Vergebung betteln zu lassen…natürlich wurde es anders genannt.
    Als ich dann wegen einiger Fehler entlassen wurde und genau dieselbe Behandlung erfahren habe, habe ich zum ersten Mal gespürt, was die Kinder dort im Heim jeden Tag erdulden mussten…damals beschloss ich, mich nicht mehr so unmenschlich zu verhalten.

    Später habe ich noch viele solche erlernten Verhaltensmuster gefunden als ich die GFK kennenlernte und irgendwann beschlossen, erstmal nicht mehr als Erzieher zu arbeiten.

    Ich glaube, wenn ich daran denke tut es sogar noch mehr weh, zu wissen, dass ich andere so behandelt habe wie ich behandelt wurde.

  2. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Markus,
    neulich hörte ich meinem Sohn zu, der eine Familie gründen will. Er sprach über seine Erziehungsvorstellungen und mir wurde ganz verzweifelt im Inneren. Ich sagte zu ihm, dass es so oft nicht funktioniert, und ich sagte ihm auch, wie traurig ich bin, dass ich ihn geschlagen habe, als er ein Kind war, weil ich so verzweifelt war und keine andere Möglichkeit erkennen konnte, um das durchzusetzen, was ich für richtig hielt. Wir führen dieses Gespräch nicht zum ersten Mal, und was mich echt verzweifeln lässt, ist dass er immer sagt, er könne sich nicht erinnern, geschlagen worden zu sein, und damit ist für ihn das Thema erledigt. Mir geht es ja nicht darum, dass er mir verzeihen soll oder so was. Mir geht es darum, dass wir es besser machen bei den nachfolgenden Generationen. Wie soll das gehen, wenn ich meine eigene Geschichte nicht kenne, nicht reflektiere? Wenn ich meine Muster nicht sehe…
    Das ist eine große spirituelle Übung im Loslassen für mich.
    So long, und Dir einen schönen Urlaub bei den Froschfressern 🙂
    Ysabelle

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