Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Der Nomade

Hallo ihr Lieben!

Vor ein paar Jahren habe ich diese kleine Geschichte geschrieben, die ich nach wie vor sehr spannend und aktuell finde. Ich möchte gar nicht viel dazu sagen, würde mich aber sehr über Kommentare freuen, weil man sehr viel hineinlesen kann.

Wie geht es euch mit diesen Zeilen? Findet ihr euch darin wieder? Welche Assoziationen weckt der Text in euch?

Viel Spaß beim Lesen wünscht

Markus

Der Nomade

Hinter mir erstreckt sich eine kahle Eiswüste, soweit mein Auge reicht. In dieser unwirtlichen Tundra können sich nur die härtesten und zähesten Gewächse behaupten. Manchmal regnet es für Wochen nicht, oder die Sonne entscheidet sich, ein halbes Jahr lang woanders zu scheinen. Die Temperaturen können hier innerhalb von 24 Stunden so ruckartig fallen, dass unachtsame Tiere schon in Eisblöcke gefroren wiedergefunden wurden. Wolfsrudel die sich vielleicht niemals in die Nähe einer Zivilisation wagen würden, finden hier so wenig Futter, dass ihre zerlumpten und ausgemergelten Jäger vor nichts halt machen, sie würden weder eine Maus verschmähen noch vor einem Mammut Angst haben. Also alles in allem nicht gerade eine Gegend, in der man gerne wohnen würde.

Die wenigen menschlichen Siedlungen auf die man dann doch vereinzelt stoßen kann haben alle ihre eigene Methode entwickelt, um mit diesen Bedingungen umzugehen. Manche bilden lose Verbünde, unterstützen sich gegenseitig bei der Jagd oder Nahrungssuche, ohne sich jedoch auch nur im mindesten einander anzunähern. Jeder ist sich selbst der Nächste heißt es. Diese Bündnisse zerfallen meistens noch schneller, als sie entstanden sind, wenn einer daraus einen persöhnlichen Vorteil ziehen kann.

Dann gibt es die Eremiten, zähe Einsiedler die ihre Nische gefunden haben und irgendwie zurechtkommen. Sie vermeiden die Jagd und leben eher von dem, was sie der Natur durch ihre Schläue abtrotzen. In Höhlen gezüchtete Pilze, essbare Farne, seltene Vogeleier – sie wissen oft ganz genau, wie sie in dieser lebensfeindlichen Welt überleben können. Ich habe schon von einem Jungen gehört, der drei Jahre in einer Höhle überlebt hat indem er die moosigen Wände abgeleckt hat. Ich selbst habe einige dunkle Monate auf ähnliche Weise zugebracht, deswegen kann ich auch aus Erfahrung nicht viel gutes berichten. Ich habe existiert, überlebt, dahinvegetiert – bessere Bezeichnungen fallen mir für diese Zeit nicht ein.

Schließlich gibt es noch die Wanderer, Nomaden wenn man so will. Sie haben irgendwann die Entscheidung getroffen, dass es nicht schlimmer kommen kann, selbst wenn sie in einer Talsenke von Wölfen zerrissen würden. Oft entstammen sie den bereits erwähnten Zweckverbünden, dann erregt ihr Weggang keinerlei Aufsehen, oder sie lebten in den noch selteneren Großfamilien.

In diesen Patriarchaten herrschen Tradition und Strenge. Einige wenige profitieren von uralten Gesetzen die, wie in Stein gemeißelt, das Geschick der Sippe bestimmen. Der Rest fürchtet sich vor dem Zorn der Götter oder dem Ausschluss aus dem Stamm, vielleicht hoffen einzelne, selbst einmal das Zepter in die Hand zu nehmen oder sie wurden mit ähnlichen Versprechen nach Macht geködert.

Aus diesen Sippen gibt es kein einfaches Weggehen. Jedes Mitglied wird gebraucht um nicht zu sagen benutzt, jeder ist vom Anderen abhängig und auf eine gewisse Weise unentbehrlich. Deswegen sind es nur ganz wenige und zumeist junge Leute, die es wagen aus diesen menschlichen Teersümpfen auszubrechen. Sie haben erkannt, dass das Leben mehr zu bieten haben sollte als Dienen und schuften. Sie klammern sich an den naiven Glauben, dass die Sonne irgendwo mehr Kraft besitzt als hier in der Steppe. Und sie haben irgendwann angefangen, den Zweifeln Raum zu geben. Den Zweifeln an der Unfehlbarkeit des alten Greises an der Spitze. Den Zweifeln an der Gottgewolltheit der Traditionen und des Schicksals.

Sie glauben nicht mehr länger daran, dass hinter den Bergen die Welt aufhört und es nichts gibt, was sie dort finden könnten. In den meisten Fällen ist ihre Sippe irgendwann mit einem anderen Nomaden in Kontakt gekommen, vielleicht hatte er sogar das Glück, nicht als Dämon gesteinigt zu werden. Und ob er nun dieselbe Mundart beherrschte oder nicht, er pflanzte in diesen jungen Leuten Zweifel.

Er war von „außerhalb“, das alleine war schon unerhört, wo doch jeder wußte, dass es außerhalb der Sippe nur Barbaren und gottlose Dämonen gab, vielleicht noch ab und zu wilde Tiere aber sicher keine menschlichen Wesen. Wenn sich die Ältesten nun in diesem Punkt irrten….

So fing der Zweifel auch in mir zu wachsen an. Neben meinen festverwurzelten Überzeugungen an die Tradition, die Gemeinschaft und die herrschende Autorität fing ganz langsam, zunächst sogar von mir selber unbemerkt, die Saat des Zweifels an ihre Wurzeln der Vernunft zu treiben und zu blühen.

Irgendwann war es mir unmöglich, das Versteckspiel länger mitzumachen. Bei den wöchentlichen Rezitierungen der unfehlbaren Tradition durch unseren allweisen Führer schrien plötzlich fremde Gedanken so laut in mir, dass ich Angst hatte, alle um mich herum würden es hören. Dennoch dauerte es sehr lange, bis ich den Mut fand, diesen neuen Stimmen Gehör zu schenken. Was sie mir zu sagen hatten war so unfassbar und so radikal neu, genausogut hätten sie mir weißmachen können, oben wäre unten oder ich würde in Wirklichkeit seit meiner Geburt schlafen und mir mein Leben nur erträumen.

Und in der Tat waren die Stimmen von ganz ähnlicher Qualität. Nun würden bestimmt viele diese Stimmen Lügen strafen und ihnen nicht weiter zuhören. Ich war versucht, ebenso zu tun. Aber etwas in mir zögerte. Irgendeinem Teil von mir war bereits bekannt, was diese neuen Stimmen sagten und es fühlte sich auf eine nicht zu beschreibende Art vertraut an.

Vielleicht taugt dieses Beispiel: Stellt euch vor, ihr wärt unter lauten Farbenblinden aufgewachsen. Schwarz, Weiß und vielleicht Grau sind die einzigen Schattierungen, in denen alle um euch herum denken, das einzige, von dem sie euch erzählen. Und plötzlich kommt jemand und nennt euch alle Farben des Regenbogens, betrachtet mit euch einen Sonnenuntergang oder die einzige Blume in tausend Meter umkreis. Und das diffuse Gefühl, das ihr schon seit eurer Kindheit mit euch herrumtragt, wird plötzlich zu einer Gewißheit. Ihr lernt, eurer eigenen Wahrnehmung zu trauen und nicht mehr den verkrüppelten Vorstellungen der halbtoten um euch herum. Ihr lernt, Farben selbst in den endlosen Eiswüsten zu erblicken, das Licht zu betrachten, das sich in schmelzendem Eis bricht, die Schönheit des Lebens statt das aschfahlem Grau des Todes zu entdecken….wenn ihr begreift, wie sich dieser Prozess anfühlt, dann könnt ihr erahnen, wie es mir erging.

Es dauerte noch sehr lange, bis ich mich traute, aus der Gemeinschaft fortzulaufen. Es war nicht ungefährlich, da Verräter bei uns normalerweise zu ihrem eigenen Besten gesteinigt und verbrannt werden – auf diese Weise wird ihre unsterbliche Seele gerettet vor dem, was der erkrankte Körper ihr durch seinen Verrat antun würde.

Da ich an meinem Körper sehr hänge, beschloss ich, heimlich fortzugehen. Als die anderen schliefen stahl ich mich davon mit ein paar gestohlenen Vorräten und sonst nur dem, was ich an Lumpen am Leibe trage. Ich kann nicht sagen, wie lange meine Flucht nun schon dauert. Mein Gedächtnis sagt mir, dass ich noch keinen Sonnenzyklus lang unterwegs bin, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich schon mein ganzes Leben lang laufe.

Die letzten Wochen habe ich damit zugebracht, ein steiniges Gebirge zu überqueren. Einmal wäre ich fast in eine Eisspalte gerutscht, aus der es alleine kein Entkommen gegeben hätte, aber die Götter waren mir wohl noch einmal gnädig. Ich habe inzwischen soviel abgenommen, dass ich wahrscheinlich als wandelndes Gerippe durchgehen würde, sofern ich überhaupt jemals wieder auf Menschen treffen sollte. Vor Hunger plagen mich manchmal Halluzinationen die für mich realer sind als alles andere. Und an einem scharfen Felsen habe ich mein Bein aufgeschnitten das mir jeder Schritt schmerzt.

Aber wie ich diese Zeilen in mein Tagebuch schreibe sitze ich hier unweit des Gipfels und werde für alles entschädigt.

Vor mir fallen die Berge steil ab und zu ihren Füßen beginnen Gewächse die scheinbar endlos reichen. Ein Grün bedeckt den Boden dass ich bisher nie erblicken durfte, am Rand meines Blickfelds sehe ich übermannshohe Gewächse, braun und Grün und so lebendig das mein Herz schreien möchte vor Freude. Und in weiter weiter Ferne sehe ich Rauch aufsteigen. Rauch bedeutet Menschen, bedeutet Leben, bedeutet Wärme!

Bei diesem Anblick festigt sich erneut mein Entschluss, weiterzugehen. Ich werde diese Menschen erreichen, und wenn es das letzte ist was ich tue.

Diese Aufzeichnungen lasse ich hier in dieser Höhle zurück, einen Tagesmarsch entfernt von diesem wundervollen Anblick, in der Hoffnung, dass ein anderer junger Nomade sie finden mag. In der Hoffnung, dass sie dich bestärken mögen, weiterzugehen und nicht umzukehren. Höre auf die Stimme deines Herzens, dein Ziel ist nicht mehr weit. Und wenn du diese Aufzeichnungen ebenfalls einen Tagesmarsch zurück in die Eiswüste tragen magst, so wird vielleicht irgendwann dieses ganze gottverlassene Tal von all den armen, traurigen und erbärmlichen Menschen verlassen werden, für die dieses Gefängnis jetzt noch die ganze Welt darstellt.

Wer weiß, vielleicht werden wir uns jenseits dieses Gebirges eines Tages begegnen, in einer freien und freundlicheren Welt.

Vielleicht werde ich sogar irgendwann die Kraft haben, in das Tal zurückzukehren um von meiner Reise zu berichten, in der Hoffnung, Gehör zu finden und weitere Blumen in offene Herzen auszusäen.

6. September 2008

Gewidmet allen Zweiflern die ihren Sinnen trauen wollen!

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