Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

… ich bin nur in das Zimmer nebenan gegangen

Der Tod ist nichts,
ich bin nur in das Zimmer nebenan gegangen.
Ich bin ich, ihr seid ihr.
Das, was ich für euch war, bin ich immer noch.
Gebt mir den Namen, den ihr mir immer gegeben habt.
Sprecht mit mir, wie ihr es immer getan habt.
Gebraucht keine andere Redeweise,
seid nicht feierlich oder traurig.
Lacht weiterhin über das,
worüber wir gemeinsam gelacht haben.
Betet, lacht, denkt an mich,
betet für mich,
damit mein Name ausgesprochen wird,
so wie es immer war,
ohne irgendeine besondere Betonung,
ohne die Spur eines Schattens.
Das Leben bedeutet das, was es immer war.
Der Faden ist nicht durchschnitten.
Weshalb soll ich nicht mehr in euren Gedanken sein,
nur weil ich nicht mehr in eurem Blickfeld bin?
Ich bin nicht weit weg,
nur auf der anderen Seite des Weges.

Henry Scott Holland (1847-1918)

Hallo, Welt!
Um 13.01 Uhr kam der Anruf aus dem Hospiz. Das Leiden hat ein Ende. Ich fühle Leere, Erleichterung und Trauer. Erfüllte Bedürfnisse: Dankbarkeit. Für meine Mutter, für all das, was wir in den letzten Jahren teilen durften. Dankbarkeit, dass es vorbei ist. Auch mein Bedürfnis nach Frieden ist erfüllt. Nach Wärme und Liebe. Nach Unterstützung, denn meine Tante und meine Cousine waren heute Morgen noch bei meiner Mutter. Doch ihren letzten Atemzug hat sie erst getan, als beide gegangen waren. Die letzten Tage haben mich sehr gefordert. Am Sonntag war ich zuletzt da. Montag zeichnete sich schon ab, dass es zu Ende geht. Aber ich bin noch immer krank, höre fast nichts auf dem rechten Ohr. Gehe trotzdem zur Arbeit. Und dann auf die Autobahn, 120 km? Und nachts zurück? Ein Spagat zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge. So habe ich sie nicht mehr gesehen und werde sie auch nicht mehr sehen.
Heute kein Business as usual. Ich lass mich mal spüren, was jetzt dran ist.

So long,
Ysabelle

Friede sei mit Dir, Marshall…

Hallo, Welt!
Gestern Abend erreichte mich die Nachricht, dass Marshall Rosenberg Marshall_looking_upam vergangenen Samstag im Kreis seiner Familie gestorben ist. Anscheinend hatte er schon lange Prostatakrebs. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass er auch an Alzheimer erkrankt gewesen sein soll (uff, Plusquamperfekt Konjunktiv…). Ich sehe diese Nachricht, ich leite sie weiter, ich klinke mich ein in die Fuze-Konferenz des CNVC, wo wir alle die Möglichkeit haben, unsere Gedanken zu teilen (Infos dazu unten) und kann es nicht fassen. Das kann doch nicht sein. Marshall kann doch nicht tot sein. Ich erinnere mich daran, wie Anja Kenzler vor Jahren sagte, „Marshall wird uralt. Seine Mutter ist erst kürzlich gestorben, die ist auch uralt geworden“. Irgendwie war ich überzeugt, er würde den Friedensnobelpreis kriegen, endlich. Aber dazu muss er leben! Und nun ist er tot. Einfach so. Marshall Rosenberg ist tot.

Ich habe ihn nur neun Tage live erlebt, auf dem letzten IIT, das er in Europa geleitet hat. Das war 2009. Was für eine Eingebung, meine Kohle dafür rauszuhauen! Das IIT selbst fand ich eher enttäuschend. Da wurden die gleichen Inhalte unterrichtet, wie ich sie bei Anja Kenzler und Gerhard Rothhaupt schon kennen gelernt hatte. Und Marshall? „Gott“ Marshall? es gibt eine Anekdote dazu, die ich komplett vergessen hatte. Maria, eine der Teilnehmerinnen beim IIT, sprach Marshall an, ob er auch mal etwas Neues zu erzählen hätte? Alles das, was er sagen würde, könne man auch auf seinen CD’s und Videos hören. Und ich hörte mich selber laut sagen: „One does not critize GOD.“ Maria sprach mich vor zwei Jahren auf diese Äußerung an. Sie hatte meine Worte behalten, ich hatte sie vergessen… Mein altes Thema mit Autoritäten! Dabei war ich voller Bewunderung für Maria und ihre Kühnheit!
Ich glaube, Marshall war in 2009 schon nur noch ein Schatten seines früheren Selbst. Er wurde abgeschirmt von seinem Sohn und den anderen Trainern. In einer Situation hatte er entschieden, ein Healing anzubieten. Da rief seine Frau Valentina während des Workshops an und schien ihm das untersagen zu wollen. 60 Menschen verfolgten dieses bizarre Telefonat oder besser, Marshalls Antworten. Einige verließen den Raum, und ich erinnere mich, wie peinlich mir das war… Autonomie, Respekt…

Nein, Marshalls häufig beschriebenes Charisma blitzte damals nur noch selten auf. Und trotzdem fühlt es sich heute gerade „heartbroken“ an. Ich habe ihn nicht wirklich kennen gelernt, auch wenn ich ihn neun Tage erlebt und gesehen habe, er am Nachbartisch gegessen hat und neben mir auf der Terrasse gestanden. Es gibt sogar ein Foto von uns beiden… Aber seine Stimme hat mich in hundert Nächten begleitet. Über Jahre bin ich über Marshalls CD’s eingeschlafen. Sein Humor, seine klare Art, Dinge zu beschreiben, all das liebe ich an ihm. Ein fremder alter Mann, der mir neue Türen geöffnet hat… Mit Marshalls Hilfe ist es mir gelungen, bei mir selbst anzukommen. Seine Bücher waren eine Offenbarung für mich. Und die Fortführung seines Werkes durfte ich in der Arbeit vieler Trainer erleben: Anja Kenzler, Gerhard Rothhaupt, Kirsten Kristensen, Kit Miller, Dominic Barter, Robert Gonzales, Gina Lawrie, Simone Anlicker, Ian Peatey, Shantigarbha Warren, Simran K. Wester, Esther Gerdts, Andi Schmidbauer, Marianne Sikor, Vivet Alevi, um nur einige zu nennen. Und heute gehöre ich auch zu jenen, die die Fackel weiter tragen. Marshalls Wirken war nicht vergebens. Dazu möchte ich beitragen.

So long!

Ysabelle

Marshall Rosenberg passed from this life on Saturday, February 7th. 2015

Following the news of Marshall’s passing CNVC are inviting anyone touched by Marshall’s life and message to gather online to share our recollections of his life and teaching and the significance they have for us.

In order to care for our varied time zones and schedules, and to give space for all that we want to share, this online space of sharing will run continuously for 16 hours. You may dial in at any time, and stay for as long as is meaningful for you.

We will seek to ensure there is at least one CNVC staff or Board member present on the call at all times, to receive you and hold the space for sharing. We welcome companionship in this holding.

The gathering will begin at 3:00 UTC – in twenty minutes from the sending of this message. That is 10pm in New York (Feb 10, 2015), 3am in London, 4:00h in Paris, 8:30am in Delhi, 11am in Perth (Feb 11, 2015).

We will bring the sharing time to a close at 19:00 UTC – 16 hours and twenty minutes after the sending of this message. That is 2pm in New York, 7pm in London, 20:00h in Paris, 12:30am in Delhi, 3am in Perth.

To join the call from the US or via SkypeOut dial +1 201-479-4595 and enter meeting number 27870906
To call in from other countries, find local numbers here:

www.fuze.com/numbers?utm_source=Meeting-Invite

-then use the number for your country and enter the meeting number 27870906

If you have a fast internet connection and would like to join by computer with audio and video, download Fuze. https://www.fuze.com/download?utm_source=Meeting-Invite

Once FUZE is installed click this link http://fuze.me/27870906 to join the call.

With gratitude for our community,

– Dominic, for the staff and Board of CNVC

Dankbarkeit: 5. Februar 2015

Hallo, Welt!
Eine Woche Bettruhe und heute der erste Tag auf den Beinen. Ich bin um neun aufgestanden, jetzt ist es 23.40 Uhr und ich arbeite noch immer. Keine Ahnung, wo der kleine Preuße steckt, ich wurschtel einfach vor mich hin. Aber gleich nach diesem Blogbeitrag wechsel ich ins Schlafzimmer.
Jeden Tag telefoniere ich nun mit dem Hospiz. Heute hat eine Mitarbeiterin das Telefon aus dem Stationszimmer zu meiner Mutter getragen, die mit dem schon bekannten Kuhglocken-Geläut meine Fragen beantwortet hat. Mensch, wenn mir einer vor einem halben Jahr gesagt hätte, ich würde mal dankbar sein, wenn mir einer mit der Kuhglocke in den Hörer läutet, den hätte ich für verrückt erklärt.

Ich bin berührt und dankbar, dass man sich im Hospiz täglich Zeit für mich nimmt, um mit großer Freundlichkeit meine Fragen zu beantworten. Jeden Abend schicke ich ein Fax, das der Mama morgens gebracht wird. Dann hat sie gleich einen Gruß von mir, und Papier fand sie schon immer cooler als alles andere.
Dankbar bin ich heute auch für die Unterstützung durch meine Bürokraft. Klaglos hat sie die ganzen Lastschrifteinzüge weggearbeitet und dann mit mir im kalten Lager Pakete gepackt. In einer Woche ist Trainertreffen in München und wenn es der Zustand meiner Mutter zulässt, werde ich gen Süden düsen. Mein Sohn, der Speditionskaufmann, macht mir einen guten Preis, um eine Kiste Ware dort runter zu schaffen. Mehr ist dieses Jahr nicht drin, dafür ist einfach zu viel los in meinem Leben. Aber ein bisschen Flagge zeigen will ich dann doch.
Ich glaube übrigens, dass ich bestimmte Sachen lieber arbeite als andere. Ich schreibe zum Beispiel lieber einen Blogbeitrag als dass ich bügele. Und bügeln ist meine liebste Hausarbeit. Seit niemand mehr da ist, der mit mir isst, habe ich keine Lust mehr zum Kochen. Und was habe ich früher für Köstlichkeiten gezaubert… Also, bevor ich etwas Wichtiges im Haushalt erledige, mache ich lieber noch etwas „weniger wichtiges“ am Computer. Post wegsortieren ist ganz unbeliebt. Am schlimmsten ist Boden wischen. Und Fenster geputzt habe ich bestimmt 15 Jahre nicht. In der Küche kann man im Moment vor Papierbergen kaum treten. Also noch schnell einen Blogbeitrag, bevor ich noch diese Haufen sortieren muss… Oder einen Artikel. Oder eine Bestellung fertig machen. Für Morgen habe ich mir vorgenommen, etwas für mich und meine Schönheit zu tun. „Leichtsinnig“, sagt einer aus dem Preußen-Chor. „Du musst die Kohle zusammen halten. Hast Du mal gesehen, wie viele Rechnungen in den kommenden drei Wochen abgebucht werden?“

Egal. Ich verkneife mir schon, diesen tollen Bose-Lautsprecher zu kaufen, den Uwe mit auf dem Seminar hatte, obwohl der aktuell runtergesetzt ist. Da muss wenigstens eine Fußpflege und eine Rückenmassage drin sein!

So long!

Ysabelle

Von kleinen Preußen und Zinnsoldaten

Hallo, Welt!
Ich bin krank. Tatsächlich und mit gelbem Schein und schon den fünften Tag im Bett. Gestern rief mich eine Teilnehmerin aus der Übungsgruppe an und redete mir zu, heute noch einmal zum Arzt zu gehen und die Krankschreibung zu verlängern. „Du machst zu viel und du achtest zu wenig auf dich“. Ich sagte zu ihr, „ich habe da in mir einen kleinen Preußen, der sieht, was alles zu tun ist, und der findet, ich war lang genug im Bett“. Und sie entgegnete: „Dann sperrst du deinen kleinen Preußen jetzt mal eine Woche im Keller ein.“
In der vergangenen Woche habe ich mich zum wiederholten Mal mit der GFK-Matrix beschäftigt, die hier ja auch schon häufig Thema war. Da wisperte eine Stimme, dass ich zu viel tue, nicht genug Pausen habe und eigentlich völlig erschöpft sei. Bedürfnis-Bewusstein und Vitalität kultivieren – bin ich da nach wie vor unbewusst inkompetent? Nehme ich tatsächlich nicht wahr, wie es mir geht? Warum „fühle“ ich mich ständig so ähnlich wie schuldig bei dem Gedanken, nichts zu tun? Druck… ich muss… mehr… tun… es reicht nicht…. streng dich an…
Mein kleiner Preuße salutiert aktuell draußen vor dem Schuppen und marschiert im Hof auf und ab. Mein schlimmer Schnupfen und der bellende Husten machen eine Kommunikation mit mir aktuell nicht gerade einfach und trotzdem glühten heute Morgen die Telefondrähte (ach ne, ist ja drahtlos). Um kurz vor acht rief der Pflegedienst an, um mich zu informieren, dass meine Mutter ins Krankenhaus gebracht wird. Um halb eins rief das Krankenhaus an, man würde meine Mutter jetzt entlassen und ins Hospiz bringen. Und um 13.20 Uhr rief das Hospiz an, um die ersten Dinge mit mir zu besprechen, damit meine Mom dort gut ankommen kann. Die warme Fürsorge und Empathie, die mir da entgegen kam, hat mich komplett aus der Bahn geworfen. „Ach, ihre Mutter kann gar nicht mehr sprechen? Gut, dass Sie das sagen, dann können wir uns darauf einstellen…“ Wie anders der Kontakt als mit dem Krankenhaus oder mit dem Büro des Pflegedienstes, wo es nur um Organisatorisches ging und wirklich nirgendwo die Menschlichkeit durchblitzte. Ich bin sehr dankbar für diesen Anruf. Um meiner Gesprächspartnerin einen Eindruck zu geben, wen sie erwarten können, zitierte ich meine Mutter: „Ich bin ein kleiner Zinnsoldat“… Und jetzt laufen die Tränen ohne Unterlass und ich denke, mein kleiner Preuße ist sicher eine Art Kollege des kleinen standhaften Zinnsoldaten meiner Mutter, die trotz Krebs im Endstadium immer noch ihre Blumen umsorgt und ständig Wäsche waschen muss. Ich glaube, ich buche ein Coaching, wie ich meinen Preußen mehr auf „lebensdienlich“ umschulen kann.

So long,
Ysabelle

… und für alle, die den Zinnsoldaten nicht kennen:

Der standhafte Zinnsoldat

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die waren alle Brüder, denn sie waren aus einem alten zinnernen Löffel gemacht worden. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht geradeaus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform; das allererste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort »Zinnsoldaten!« Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und er stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaft, nur ein einziger war etwas anders; er hatte nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr Zinn genug da; doch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein wie die andern auf ihren zweien, und gerade er war es, der sich bemerkbar machte.

Auf dem Tisch, auf dem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug; aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloss von Papier; durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen. Draußen vor ihm standen kleine Bäume rings um einem kleinen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war alles niedlich, aber das niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der offenen Schlosstür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte ein schönes Kleid und ein kleines, schmales, blaues Band über den Schultern, gerade wie ein Schärpe; mitten in diesem saß ein glänzender Stern, gerade so groß wir ihr Gesicht.

Das kleine Mädchen streckte seine beiden Arme aus, denn es war eine Tänzerin, und dann hob es das eine Bein so hoch empor, dass der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, dass es gerade wie er nur ein Bein habe.

»Das wäre eine Frau für mich.«, dachte er. »Aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schlosse, ich habe nur eine Schachtel, und da sind wir fünfundzwanzig darin, das ist kein Ort für sie, doch ich muss suchen, Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!« Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, die auf dem Tische stand. Da konnte er recht die kleine, feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Bein zu stehen, ohne umzufallen.

Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl »Es kommt Besuch!« als auch »Krieg führen« und »Ball geben«; die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben. Der Nussknacker schoss Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, dass der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreckt; er war ebenso standhaft auf seinem einen Bein; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr weg.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch, da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose auf, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner, schwarzer Kobold.

Das war ein Kunststück!

»Zinnsoldat« sagte der Kobold, »halte deine Augen im Zaum!« Aber der Zinnsoldat tat, als ob er es nicht hörte.

»Ja, warte nur bis morgen!« sagte der Kobold.

Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster zu, und der Soldat stürzte drei Stockwerke tief hinunter.

Das war eine erschreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf der Helmspitze mit dem Bajonett abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.

Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich hinunter, um zu suchen; aber obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: »Hier bin ich!«, so hätten sie ihn wohl gefunden, aber er fand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.

Nun fing es an zu regnen; die Tropfen fielen immer dichter, es ward ein ordentlicher Platzregen; als der zu Ende war, kamen zwei Straßenjungen vorbei.

»Sieh du!« sagte der eine, »da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!«

Sie machten ein Boot aus einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten hinein, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Was schlugen da für Wellen in dem Rinnstein, und welcher Strom war da! Ja, der Regen hatte aber auch geströmt. Das Papierboot schaukelte auf und nieder, mitunter drehte es sich so geschwind, dass der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah geradeaus und hielt das Gewehr im Arm.

Mit einem Male trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.

»Wohin mag ich nun kommen?« dachte er. »Ja, Ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach, säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da könnte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!«

Da kam plötzlich eine große Wasserratte, die unter der Rinnsteinbrücke wohnte.

»Hast du einen Pass?« fragte die Ratte. »Her mit dem Passe!«

Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester.

Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hu, wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu: »Halt auf! Halt auf! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Pass nicht gezeigt!«

Aber die Strömung wurde stärker und stärker! Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte.

Denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, gerade hinaus in einen großen Kanal; das würde für den armen Zinnsoldaten ebenso gefährlich gewesen sein wie für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren!

Nun war er schon so nahe dabei, dass er nicht mehr anhalten konnte. Das Boot fuhr hinaus, der Zinnsoldat hielt sich so steif, wie er konnte; niemand sollte ihm nachsagen, dass er mit den Augen blinke. Das Boot schnurrte drei-, viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es musste sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Halse im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. Da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren das Lied: »Fahre, fahre Kriegsmann!
Den Tod musst du erleiden!«
Nun ging das Papier entzwei, und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen.

Wie war es dunkel da drinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arm.

Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Das Licht schien ganz klar, und jemand rief laut: »Der Zinnsoldat!« Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt. Sie nahm mit zwei Fingern den Soldaten mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle den merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war gar nicht stolz. Sie stellten ihn auf den Tisch und da – wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen! Der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war, er sah dieselben Kinder, und das gleiche Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloss mit der niedlichen, kleinen Tänzerin. Die hielt sich noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war auch standhaft. Das rührte den Zinnsoldaten, er war nahe daran, Zinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an, aber sie sagten gar nichts.

Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war.

Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wusste er nicht. Die Farben waren ganz von ihm abgegangen – ob das auf der Reise geschehen oder ob der Kummer daran schuld war, konnte niemand sagen. Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, dass er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehre im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin, und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war verschwunden. Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.

Hans Christian Andersen

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