Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Von kleinen Preußen und Zinnsoldaten

Hallo, Welt!
Ich bin krank. Tatsächlich und mit gelbem Schein und schon den fünften Tag im Bett. Gestern rief mich eine Teilnehmerin aus der Übungsgruppe an und redete mir zu, heute noch einmal zum Arzt zu gehen und die Krankschreibung zu verlängern. „Du machst zu viel und du achtest zu wenig auf dich“. Ich sagte zu ihr, „ich habe da in mir einen kleinen Preußen, der sieht, was alles zu tun ist, und der findet, ich war lang genug im Bett“. Und sie entgegnete: „Dann sperrst du deinen kleinen Preußen jetzt mal eine Woche im Keller ein.“
In der vergangenen Woche habe ich mich zum wiederholten Mal mit der GFK-Matrix beschäftigt, die hier ja auch schon häufig Thema war. Da wisperte eine Stimme, dass ich zu viel tue, nicht genug Pausen habe und eigentlich völlig erschöpft sei. Bedürfnis-Bewusstein und Vitalität kultivieren – bin ich da nach wie vor unbewusst inkompetent? Nehme ich tatsächlich nicht wahr, wie es mir geht? Warum „fühle“ ich mich ständig so ähnlich wie schuldig bei dem Gedanken, nichts zu tun? Druck… ich muss… mehr… tun… es reicht nicht…. streng dich an…
Mein kleiner Preuße salutiert aktuell draußen vor dem Schuppen und marschiert im Hof auf und ab. Mein schlimmer Schnupfen und der bellende Husten machen eine Kommunikation mit mir aktuell nicht gerade einfach und trotzdem glühten heute Morgen die Telefondrähte (ach ne, ist ja drahtlos). Um kurz vor acht rief der Pflegedienst an, um mich zu informieren, dass meine Mutter ins Krankenhaus gebracht wird. Um halb eins rief das Krankenhaus an, man würde meine Mutter jetzt entlassen und ins Hospiz bringen. Und um 13.20 Uhr rief das Hospiz an, um die ersten Dinge mit mir zu besprechen, damit meine Mom dort gut ankommen kann. Die warme Fürsorge und Empathie, die mir da entgegen kam, hat mich komplett aus der Bahn geworfen. „Ach, ihre Mutter kann gar nicht mehr sprechen? Gut, dass Sie das sagen, dann können wir uns darauf einstellen…“ Wie anders der Kontakt als mit dem Krankenhaus oder mit dem Büro des Pflegedienstes, wo es nur um Organisatorisches ging und wirklich nirgendwo die Menschlichkeit durchblitzte. Ich bin sehr dankbar für diesen Anruf. Um meiner Gesprächspartnerin einen Eindruck zu geben, wen sie erwarten können, zitierte ich meine Mutter: „Ich bin ein kleiner Zinnsoldat“… Und jetzt laufen die Tränen ohne Unterlass und ich denke, mein kleiner Preuße ist sicher eine Art Kollege des kleinen standhaften Zinnsoldaten meiner Mutter, die trotz Krebs im Endstadium immer noch ihre Blumen umsorgt und ständig Wäsche waschen muss. Ich glaube, ich buche ein Coaching, wie ich meinen Preußen mehr auf „lebensdienlich“ umschulen kann.

So long,
Ysabelle

… und für alle, die den Zinnsoldaten nicht kennen:

Der standhafte Zinnsoldat

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die waren alle Brüder, denn sie waren aus einem alten zinnernen Löffel gemacht worden. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht geradeaus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform; das allererste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort »Zinnsoldaten!« Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und er stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaft, nur ein einziger war etwas anders; er hatte nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr Zinn genug da; doch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein wie die andern auf ihren zweien, und gerade er war es, der sich bemerkbar machte.

Auf dem Tisch, auf dem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug; aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloss von Papier; durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen. Draußen vor ihm standen kleine Bäume rings um einem kleinen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war alles niedlich, aber das niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der offenen Schlosstür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte ein schönes Kleid und ein kleines, schmales, blaues Band über den Schultern, gerade wie ein Schärpe; mitten in diesem saß ein glänzender Stern, gerade so groß wir ihr Gesicht.

Das kleine Mädchen streckte seine beiden Arme aus, denn es war eine Tänzerin, und dann hob es das eine Bein so hoch empor, dass der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, dass es gerade wie er nur ein Bein habe.

»Das wäre eine Frau für mich.«, dachte er. »Aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schlosse, ich habe nur eine Schachtel, und da sind wir fünfundzwanzig darin, das ist kein Ort für sie, doch ich muss suchen, Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!« Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, die auf dem Tische stand. Da konnte er recht die kleine, feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Bein zu stehen, ohne umzufallen.

Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl »Es kommt Besuch!« als auch »Krieg führen« und »Ball geben«; die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben. Der Nussknacker schoss Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, dass der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreckt; er war ebenso standhaft auf seinem einen Bein; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr weg.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch, da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose auf, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner, schwarzer Kobold.

Das war ein Kunststück!

»Zinnsoldat« sagte der Kobold, »halte deine Augen im Zaum!« Aber der Zinnsoldat tat, als ob er es nicht hörte.

»Ja, warte nur bis morgen!« sagte der Kobold.

Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster zu, und der Soldat stürzte drei Stockwerke tief hinunter.

Das war eine erschreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf der Helmspitze mit dem Bajonett abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.

Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich hinunter, um zu suchen; aber obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: »Hier bin ich!«, so hätten sie ihn wohl gefunden, aber er fand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.

Nun fing es an zu regnen; die Tropfen fielen immer dichter, es ward ein ordentlicher Platzregen; als der zu Ende war, kamen zwei Straßenjungen vorbei.

»Sieh du!« sagte der eine, »da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!«

Sie machten ein Boot aus einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten hinein, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Was schlugen da für Wellen in dem Rinnstein, und welcher Strom war da! Ja, der Regen hatte aber auch geströmt. Das Papierboot schaukelte auf und nieder, mitunter drehte es sich so geschwind, dass der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah geradeaus und hielt das Gewehr im Arm.

Mit einem Male trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.

»Wohin mag ich nun kommen?« dachte er. »Ja, Ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach, säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da könnte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!«

Da kam plötzlich eine große Wasserratte, die unter der Rinnsteinbrücke wohnte.

»Hast du einen Pass?« fragte die Ratte. »Her mit dem Passe!«

Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester.

Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hu, wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu: »Halt auf! Halt auf! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Pass nicht gezeigt!«

Aber die Strömung wurde stärker und stärker! Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte.

Denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, gerade hinaus in einen großen Kanal; das würde für den armen Zinnsoldaten ebenso gefährlich gewesen sein wie für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren!

Nun war er schon so nahe dabei, dass er nicht mehr anhalten konnte. Das Boot fuhr hinaus, der Zinnsoldat hielt sich so steif, wie er konnte; niemand sollte ihm nachsagen, dass er mit den Augen blinke. Das Boot schnurrte drei-, viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es musste sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Halse im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. Da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren das Lied: »Fahre, fahre Kriegsmann!
Den Tod musst du erleiden!«
Nun ging das Papier entzwei, und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen.

Wie war es dunkel da drinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arm.

Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Das Licht schien ganz klar, und jemand rief laut: »Der Zinnsoldat!« Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt. Sie nahm mit zwei Fingern den Soldaten mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle den merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war gar nicht stolz. Sie stellten ihn auf den Tisch und da – wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen! Der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war, er sah dieselben Kinder, und das gleiche Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloss mit der niedlichen, kleinen Tänzerin. Die hielt sich noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war auch standhaft. Das rührte den Zinnsoldaten, er war nahe daran, Zinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an, aber sie sagten gar nichts.

Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war.

Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wusste er nicht. Die Farben waren ganz von ihm abgegangen – ob das auf der Reise geschehen oder ob der Kummer daran schuld war, konnte niemand sagen. Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, dass er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehre im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin, und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war verschwunden. Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.

Hans Christian Andersen

3 Reaktionen zu “Von kleinen Preußen und Zinnsoldaten”

  1. Dorothee

    Danke für deine wieder sehr berührenden Berichte.
    Schick deinen Preußen in Pension und höre nur auf dich und deine innere Stimme…
    Deine Mutter wird bald Abschied nehmen müssen . Deine Krankheit will dir vielleicht was sagen???
    Danke für das Paket mit den zum Teil sooo schönen Sachen. Die CD mit den songs höre ich rauf und runter.
    Nur ist mein Englisch so rudimentär, dass ich oft nur ahne was er meint. Gibt es keine einfache Übersetzung dazu? Wäre sehr hilfreich.
    Eine digitale Umarmung und gute Besserung
    Dorothee

  2. Uwe

    Ach, Ysabelle,
    statt deinen kleinen Preußen umzuschulen, kannst du dir vorstellen ihn einfach mal zu fragen, worum es ihm eigentlich geht und dann vielleicht mit ihm gemeinsam eine alternative Strategie zu suchen? Wenn ich ihn im Hof marschieren sehe, sehe ich ihn dich im Grunde beschützen.

    Wahrscheinlich hast du das längst getan, und doch schenkst du Menschen wie mir hier deine Zweifel und Unsicherheit, was mir hilft meine eigene Unsicherheit leichter anzunehmen, die Arme in die Luft zu heben und ernsthaft zu sagen „man tut, was man kann!“

    Danke dafür!
    Uwe

  3. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Uwe,
    ich habe in dieser Woche eine ganze Menge über meinen kleinen Preußen erfahren. Und er hat mir gesteckt, dass es ums GELIEBT WERDEN geht. Meine eigenen Grenzen zählen nicht, wenn (imaginäre) andere etwas von mir erwarten. Dann ist „genug“ nie genug. Mir sind ein paar unerfreuliche Kindheitserinnerungen eingefallen, die sicher mit dazu beigetragen haben, dass ich heute so ticke. Und: Ich habe einen Termin für ein Coaching UND ich habe meine Bürokraft gebeten, mehr mit einzusteigen. Ich schaffe den aktuellen Arbeitsanfall nicht allein. Eine Kapitulation. Und der kleine Preuße raucht eine Tonpfeife dazu…
    So long!
    Ysabelle

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