Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Die eigenen Stärken wertschätzen

„In all diesen Jahren des Gewichthebens und harten Trainings habe ich etwas gelernt…Was ich gelernt habe ist, dass wir immer stärker sind als wir es glauben!“ – Arnold Schwarzenegger, Encyclopedia of World Biography

Kennen wir unsere Stärken? Vielleicht wissen wir, dass wir gute Autofahrer sind oder einen Wasserhahn reparieren können. Vielleicht sind wir auch im Beruf selbstbewusst. Und doch höre ich häufig, wie schwer es Menschen fällt, sich an ihren Leistungen zu freuen, ihre Starken wertzuschätzen. „Ach, das ist nichts“, sagen sie dann. Jeder Fehler wird haarklein unter die Lupe genommen, kritisiert oder verdammt. Die Dinge, die gut gelungen sind, scheinen oft geradezu unsichtbar. Manchen ist es peinlich, von den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu berichten. Besonders schwierig ist es für Menschen, die mit der Botschaft aufgewachsen sind: Nimm dich nicht so wichtig!

Unsere Stärken sind ein Grund zum Feiern. Wir können und dürfen uns selbst wertschätzen für alles, was uns gut von der Hand geht. Die Freude über den Erfolg gibt uns neue Kraft. Wenn wir uns selbst wertschätzen, fällt es auch anderen leicht, unsere Stärken zu feiern. „Unsneaky  Bragging“  nennt Marshall  Rosenberg dieses Vorgehen, un-heimliches Prahlen. Ja, das ist mir wieder gut gelungen!, dürfen wir uns freuen. Die Wölfe, die sich dann vielleicht melden, können wir umarmen. Sie haben ihre Aufgabe längst erfüllt. Wir sind uns bewusst, was unsere wahren Stärken sind. Wir prahlen nicht mit Dingen, die keine Essenz haben.

Heute feiere ich all meine Stärken, die mein Leben bereichern.


Unser Bild im Spiegel der anderen

„Das dritte Gesetz der Sehnsucht lautet: Nur im Spiegel anderen Lebens können wir und selbst verstehen. Wir brauchen den Blick des Allerfremdesten.“ – Andreas Weber: Alles fühlt : Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. – Berlin : Berlin Verlag, 2007 ISBN 3-8270-0670-8 – Seite 34.

Es ist schwer, ohne eine liebevolle Gemeinschaft gewaltfrei leben zu wollen. Die meisten von uns sind es über viele Jahre gewohnt, in der Welt des Richtig oder Falsch zu agieren. Urteilen ist uns vertraut wie Atmen. Urteile geben uns Orientierung, Sicherheit, und Verbindung zu all den anderen Menschen um uns herum, die ebenfalls in diesem Wertesystem zu Hause sind. Es kann sehr einsam sein, als Giraffe unter Wölfen unterwegs zu sein. Kelly Bryson schlägt einiges vor, das wir mit anderen Giraffen unternehmen können:

1. Zeit für das Mitteilen persönlicher Erlebnisse
2. Zeit für die Lösung von Konflikten
3. Gemeinsame Mahlzeiten
4. Entscheidungsprozesse, an denen alle beteiligt sind
5. Kinder in der Gemeinschaft
6. Austausch über gemeinsame Wertvorstellungen, Visionen und Ziele
7. Ausdruck von Wertschätzung  und Anerkennung
8. Singen, Tanzen, Musizieren
9. Feste und Rituale
10. Gruppenkuscheln
11. Theateraufführungen vorbereiten
12. Gemeinsame Arbeit an Projekten, die nicht nur der Gemeinschaft zugute kommen, sondern auch der Umwelt, der Stadt, dem Land oder der Welt.

Dann können wir in unserem Nächsten einen liebevollen Spiegel finden. Solange wir uns nicht selbst in den Augen und Herzen unserer Mitmenschen sehen, sind wir auf der Flucht, formulierte Richard Beauvais 1964. Doch um uns zu zeigen, brauchen die meisten von uns die Sicherheit und den Schutz einer liebevollen Gemeinschaft.

Heute bemühe ich mich bewusst um Verbindung zu meinen GfK-Brüdern und Schwestern.

Das Alte sieht uns immer wieder zurück in den Sumpf



Angst

„Angst fügt einem nie Schaden zu. Was dem Geist schadet, ist: Immer jemanden hinter sich zu haben, der einen schlägt und sagt, was man tun oder lassen soll.“ – Carlos Castaneda, Die Lehren des Don Juan

Angst ist ein mächtiges Gefühl. Es kann uns in vielen Situationen begegnen. Leise und dumpf, im Hintergrund, oder überwältigend, mächtig, bedrohlich, alles andere auslöschend. „Wovor hast Du Angst?“ fragte mich ein Kollege vor vielen Jahren. Als ich für mich die Antwort gefunden hatte, verflüchtigte sich die Angst und ich war wieder „bei Sinnen“.

Angst kann ein wichtiger Kompass sein. Sie zeigt uns, was wir brauchen: Sicherheit am Arbeitsplatz, Verbindung und Nähe zum Partner, Schutz vor Naturgewalten, Unterstützung bei einer Prüfung, Vertrauen bei einer ernsten Diagnose des Arztes. Es ist befreiend benennen zu können, was wir brauchen. denn dann können wir auch Strategien entwickeln, um zu bekommen, was uns wirklich gut tut. Klarheit lässt die Angst vielleicht nicht verschwinden, aber sie kann uns Möglichkeiten eröffnen, mit ihr umzugehen. Und schlussendlich ist Angst auch „nur“ ein Gefühl. Wir können es wahrnehmen, anerkennen und loslassen.

Heute bin ich bereit, meine Angst anzunehmen und von ihr zu lernen.

Dankbarkeit

“Die Dankbarkeit ist am besten und effektivsten, wenn sie nicht in leeren Phrasen verdampft.” – Isaac Asimov aus Foundation and Empire

Dankbarkeit kann unser Leben auf unglaubliche Weise bereichern. Sie bringt uns ins Hier und Jetzt und ermöglicht uns, unsere Reichtümer wertzuschätzen.

Dankbarkeit auszudrücken fällt vielen von uns schwer. Und oft gehen wir davon aus, dass der andere ohnehin weiß, was uns sein Tun bedeutet hat. Vor einiger Zeit las ich ein Buch, das mir die Kraft von Selbstempathie noch einmal ganz klar aufzeigte. In meiner Begeisterung schrieb ich der Autorin, welche Informationen und Kapitel mir besonders geholfen haben. Sie antwortete per Mail, und zu meinem Erstaunen stellte sich heraus, dass das Buch zwar inzwischen in zweiter Auflage erhältlich ist, aber noch niemand hatte der Autorin eine Rückmeldung gegeben…

Heute klingeln bei mir die Alarmglocken, wenn ich denke, ach, er oder sie weiß schon, wie dankbar ich bin. Mich in Ruhe hinzusetzen und einen Brief zu schreiben, was mich am Verhalten oder Tun meines Gegenübers mit Dankbarkeit erfüllt, welche Bedürfnisse auf diese Weise gestillt werden, und wie mein Leben dadurch bereichert wurde, schenkt mir auch selber ganz kostbare Momente. Ich schmecke dann noch einmal die Süße des Geschenks, ich bin ganz tief mit dem anderen verbunden. Meine Dankbarkeit verbindet mich immer wieder aufs Neue mit den Geschenken, die das Leben für mich bereit hält. Wenn ich sie ausdrücke, erlaube ich meinem Gegenüber einen Blick in meine Seele. Und auch das ist ein kostbares Geschenk.

Heute will ich aufmerksam beobachten, wofür ich dankbar bin, und dann überlegen, wie ich dieses Gefühl zum Ausdruck bringen kann.


Die Schönheit in mir

„Schönheit ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird. Oder auch: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden.“ – Christian Morgenstern, Stufen

Was ist für dich schön? Es gibt ein Sprichwort, das lautet: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Der Volksmund sagt es drastischer: Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Ich erinnere mich noch gut an meine wilden Jahre, in denen meine Kleidung zu Hause für hitzige Diskussionen sorgte. Ich fand mich schön in lila Latzhosen und mit Rattenschwänzen. Meine Familie hätte mich lieber mit weißer Bluse und Faltenrock gesehen. „Wie du wieder aussiehst!“

Es gibt keinen objektiven Maßstab für Schönheit. Zwar versuchen Wissenschaftler zu vermessen, welche Proportionen generell als schön angesehen werden. Zwar gibt es Untersuchungen darüber, wann ein Gesicht als schön wahrgenommen wird. Doch mein Sohn findet das amerikanische Geländefahrzeug „Hummer“ schön, während ich mehr für alte französische Autos schwärme.

Was tun wir uns an, wenn wir beim Blick in den Spiegel urteilen: „Ich bin nicht schön“? Welche Richtschnur benutzen wir, was ist der Maßstab? Marshall beschreibt in seinen Erzählungen ein verlässliches Werkzeug, um sich elend zu fühlen: Vergleiche dich! Welche Maße haben die Top-Models? Nehme deine Maße und meditiere über die Unterschiede. Übergewicht, Glatze, Hängebusen, picklig, struppig – mit all solchen Worten legen wir eine unsichtbare Messlatte an und das Ergebnis lautet: Ich oder du – jemand ist hier ungenügend, ein fehlerhaftes Modell.

Ist es also egal, wie wir aussehen? Soll es uns egal sein, wie andere aussehen? Nein. Es gilt lediglich, uns vom Maßstab des Vergleichens zu verabschieden. Unsere Bedürfnisse werden die neue Messlatte für Schönheit. Mein Rettungsring um die Hüften macht mich nicht schlechter, weil ich damit nicht den Schönheitsidealen unserer Zeit entspreche. Das Gewicht, das ich heute habe, erfüllt nicht mein Bedürfnis nach Beweglichkeit, Leichtigkeit und Anerkennung. Und dabei bin ich wertvoll und liebenswert, egal was die Waage anzeigt. Ich kann mich selbst zu jeder Zeit wertschätzen, und dafür muss ich nicht den aktuellen Standards für Schönheit entsprechen.

Nur für heute will ich so gut aussehen, wie ich es vermag.

Jenseits von richtig oder falsch…

„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ – Dschalâl-ed-dîn Rumî

Im 13. Jahrhundert formulierte der islamische Mystiker Rumi diesen Satz, der heute zum Leitgedanken der Gewaltfreien Kommunikation geworden ist. Wie oft sind wir damit beschäftigt, unsere eigene Welt, Kollegen, die Kinder, den Partner zu beurteilen und ihr Verhalten in die Kategorien  „Richtig“ oder „Falsch“ einzusortieren. Dabei geschieht zweierlei. Zum einen schwinge ich mich zum Richter auf und bin damit nicht mehr auf Augenhöhe.  Zum zweiten sind meine Urteile von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. An guten Tagen kann ich lachen, wenn mich ein Mann im Bus anrempelt, an schlechten Tagen möchte ich angesichts so viel Rücksichtslosigkeit am liebsten laut loswettern.

Wie mein Urteil ausfällt, hängt also auch von meiner Stimmung ab, und von dem, was in unserer Gesellschaft akzeptiert wird – und auch das unterliegt natürlich Veränderungen. Dem einen billige ich mildernde Umstände zu, für den anderen gibt es kein Pardon.

Bedeutet das nun, dass in der Gewaltfreien Kommunikation nicht geurteilt werden „darf“?

Nein, ganz im Gegenteil. Nur die  Grundlage für unsere Bewertung ist eine andere als ein „Richtig“ oder „Falsch“. Die Basis für unsere Einschätzung ist die Frage, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder im Mangel. Und plötzlich erleben wir eine neue Freiheit, denn auch wir und all unsere Handlungen sind dann nicht mehr „richtig“ oder „falsch“.  Dabei stellen wir uns die Frage: Dient mein Verhalten dem Leben?

Heute will ich über nichts was geschieht urteilen.


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