Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Paranoia

Hallo, Welt!
Ich diagnostiziere bei mir eine seelische Störung:

Paranoia (griechisch παράνοια paránoia, aus παρὰ parà „wider“ und νοῦς noûs „Verstand“; wörtlich also „wider den Verstand“, „verrückt“, „wahnsinnig“) ist im engeren Sinn die Bezeichnung für eine psychische Störung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen.

Gestern traf ich beim Einkaufen eine frühere Kollegin und wir haben uns die Zeit genommen, eine Stunde miteinander zu quatschen. Das war erfüllend und nährte meine Bedürfnisse nach Verbindung, Gemeinschaft, Nähe und Gesehen werden. Die Begegnung habe ich sehr genossen. Dabei kamen wir auch auf meine geschäftlichen Aktivitäten des vergangenen Jahres zu sprechen, meine drei Jobs, meine aktuelle finanzielle Lage. Meine Kollegin, die etwas älter ist als ich, meinte, „wenn dieser Job, den ich gerade mache, Ende des Jahres auslaufen sollte, höre ich auf zu arbeiten“. Ich fragte sie, ob ihre Rücklagen dafür ausreichten, und sie antwortete: „Wenn ich Ysabelle Wolfe wäre, würde mir der Puffer nicht reichen. Aber für mich reicht es. Ich brauche ja nicht viel. Mein Haus ist bezahlt, mein Auto ist bezahlt …“

Und ich dachte bei mir: Mein Haus ist bezahlt, mein Auto ist bezahlt. Nach wie vor habe ich Anspruch auf ein Jahr Arbeitslosengeld. Ich habe einen Webshop gegründet, der bisher in diesem Jahr schon so viele Aufträge abgewickelt hat wie im ganzen vorigen Jahr. Was ist es, das mich ständig so ängstlich macht? Warum sehe ich stets vor meinem geistigen Auge den Gerichtsvollzieher vor der Tür und den Strom abgestellt? Tatsächlich habe ich den Gerichtsvollzieher das letzte Mal im Alter von 21 Jahren gesehen, als ich die Ratenzahlung für meine Möbel nicht bedienen konnte und mich blind und taub gestellt hatte (Scham, Angst, Hilflosigkeit). Seit mittlerweile einigen Jahren gelingt es mir, mein Konto dauerhaft im Plus zu halten, und durch die Abfindung von meiner früheren Firma und den Tod meiner Mutter gibt es kleine finanzielle Rücklagen. Trotzdem wühlt es in mir. Meine Kollegin sagte: „Solange ich dich kenne, hast du Angst zu verelenden. Wenn ich sehe, was du alles machst, habe ich für dich da überhaupt keine Angst …“ Und dann erzählte sie, dass sie gerade eine GmbH liquidiert, in die sie für Jahre massig Geld und Arbeit investiert hat: Wenn du feststellst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab.

Boah! So viel Geld investieren und dann abschreiben! Wie mutig! Ich habe mit 300 Euro für ein Produkt, das sich nicht verkauft, schon massive Bauchschmerzen. Jede unerwartete Rechnung löst bei mir Panikattacken aus. Mein Gehirn (präfrontaler Kortex) meldet, „kein Problem, kannst du bezahlen.“ Aber es wird im wahrsten Sinne des Wortes über-stimmt. Andere Stimmen machen mir Vorwürfe wegen der Ausgabe, ermahnen mich, die Kohle zusammen zu halten, mehr zu arbeiten, mir keine Pause zu gewähren, mir dies und jenes zu versagen. Und dann kommt es zu lustigen Übersprungshandlungen und ich lasse 20 Euro bei Arko oder bezahle für „meine“ Jugendlichen ein üppiges Frühstück mit ihnen unbekannten Käsesorten und frischen Brötchen vom Bäcker statt dieser Aufbackbriketts.

Meine Kollegin wies auch darauf hin, dass ich Menschen beschäftige/einstelle, zu denen ich eine Beziehung habe. „Und damit läufst du natürlich Gefahr, dass du nicht die beste Leistung für dein Geld kriegst.“ Und während ich diese Zeilen tippe, erinnere ich mich an eine Heimkehr von einem Termin 2012. Jemand hatte mein Wohnzimmer neu tapeziert, und ich habe mit grimmiger Verzweiflung die Bahnen wieder abgezogen. Der Untergrund war nicht richtig vorbereitet gewesen und der Handwerker hatte die Kleister-Anleitung für diese Spezialtapete nicht eingehalten. Bezahlt habe ich ihn trotzdem.
Als ich gestern nach diesem Austausch mit meiner Kollegin dem Gespräch ein bisschen nachspürte, hatte ich den Eindruck, als sei diese Finanz-Paranoia gar nicht meine. Ich lebe sie aus. Aber schon seit 1984 kann ich von meiner Hände Arbeit leben. Ich habe eine beachtliche Karriere hingelegt und selbst in Zeiten der Arbeitslosigkeit immer wieder kleine Jobs gefunden oder eigene Aktivitäten gestartet. Welcher Kuckuck hat mir diese Ängste ins Nest gelegt?
Ich erinnere nicht, dass meine Großeltern finanzielle Panik hatten. Sie waren durch die Kriegswirren von Berlin nach Lüneburg verschlagen worden und hatten ihren Hausstand verloren. Als Flüchtlinge waren sie nicht gut gelitten, keiner wollte damals (wie heute) Flüchtlinge aufnehmen. Sie haben gespart und sich ein neues Leben aufgebaut, konnten in den 60er Jahren in die Berge in den Urlaub fahren und sich gutes Essen leisten. Sie hatten einen Fernseher und eine Musiktruhe und eine Hollywood-Schaukel.
Mein Leben mit meiner Mutter verlief anders. Bei uns wurde tatsächlich der Strom abgestellt. Es gab Zeiten, da hatten wir nichts zu essen. Es gab keine Kohle mehr, wir konnten nicht heizen. Ich wurde im Bettchen angezogen, weil es in der winzigen Mansardenwohnung zu kalt war. Waren die Winter in den sechziger Jahren kälter als heute?
Warum gibt es keine Erinnerung, dass wir es geschafft haben? Warum gibt es keine Zufriedenheit, keinen Stolz, dass wir es überlebt haben? Warum ist nur die Angst abgespeichert, wie ein lauerndes Tier? Und warum muss ich mich in 2015 noch damit rumschlagen, was 1965 bedrohlich war?
Ich vermute, da hilft nur Bewusstheit. „spüren, spüren, spüren“. Wann kommt die Angst? Was ist der Auslöser? Die Gefühle sind bis heute Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Ohnmacht. Die Bedürfnisse sind Sicherheit (gibt es nicht. Und gibt es doch, in einem Sozialstaat wie Deutschland), Unterstützung, Gesehen werden, Gemeinschaft. Oh ja, das merke ich gerade. Ich bin immer mit dem Glaubenssatz unterwegs, dass ich alles allein schaffen muss und für mich sowieso keiner da ist. Und wenn ich es nicht schaffe, dann ist Ende Gelände. Gemeinschaft also. Ja, das ergibt einen Sinn. Und: To matter (noch immer kein gutes deutsches Wort dafür gefunden. zählen. Ich zähle. Aber nicht bis acht, sondern ich habe Bedeutung, ich bin wichtig. Hach, nimm dich nicht so wichtig!). Vielleicht bin ich wichtig, wenn ich andere Leute unterstütze. Vielleicht zähle ich, wenn ich selbstlos bin (was für ein Blödsinn!). Also: Wieder mal wunderbare Bedürfnisse im Mangel. Was mache ich nun damit? Als erstes ein richtig schönes Frühstück, vielleicht draußen auf der Terrasse, im Sonnenschein. Da höre ich wenigstens nicht, wenn der Gerichtsvollzieher klingelt…

So long!
Ysabelle

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