Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Tod durch Vergleichen

Hallo, Welt!
Ich bin zurück aus dem Urlaub. Erholt und tatkräftig war ich für ein paar Stunden, dann hat mich ein Virus erobert und gestern lag ich tatsächlich ab 16 Uhr flach mit Kopfschmerzen, Halsweh, Triefnase und fiesem Husten. Ungünstig, denn ich gehöre zum Orga-Team für eine größere Veranstaltung am kommenden Wochenende. Wir erwarten zwischen 80 und 100 Teilnehmer und alles geht systembedingt etwas drunter und drüber. Ich wäre wirklich gern fit dafür…
Heute will ich etwas zum Thema „Tod durch Vergleichen“ berichten. Dieser Urlaub war wirklich sehr großartig. Ich war auf einem sehr schönen Kreuzfahrtschiff, habe gut gegessen, viel geschlafen, tolle Ausflüge gemacht und mich gefreut, dass ich das alles erleben durfte. Und gleichzeitig tauchte immer wieder das Thema „Vergleiche“ auf. War ich glücklicher, weil ich eine Balkonkabine hatte, als die Leute, die eine Innenkabine hatten? Wie konnte sich Witwe XY in diesem Jahr schon die dritte Kreuzfahrt leisten? Was macht die richtig und ich falsch? Wieso scheinen einige Leute alles essen zu können und sie werden nicht dick, und ich gehe am Büfett vorbei und habe zwei Kilo mehr auf der Hüfte? Und der Mann da, und die Frau – boah, ey, sind die dick… dagegen bin ich ja ein Rehlein…

Ich habe dieses Thema auch mit meinem Reisegefährten diskutiert. Wir fanden dabei so spannende Fragen wie „habe ich diesen Urlaub „verdient“, oder steht es mir nicht zu, so einen Luxus zu erleben? Bin ich „gut genug“? Und zum wiederholten Mal habe ich festgestellt, dass Vergleichen der sicherste Weg ist, sich richtig schlecht zu fühlen. Es gibt dazu von Marshall Rosenberg eine sehr nette Textpassage. Er schlägt vor, man möge das Telefonbuch von New York an beliebiger Stelle aufschlagen und sich mit der Person vergleichen, die dort aufgeführt wird. Beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozart (mir war vorher nicht bekannt, dass der nach New York umgesiedelt ist…). Also: Wie viele Violinkonzerte habe ich im Alter von 12 Jahren geschrieben? Null. Desweiteren schlägt Marshall vor, man möge in eine Umriss-Zeichnung, die Mann und Frau in ihren Idealmaßen zeigt, jeweils die eigenen Maße eintragen. Falls also 90-60-90 noch immer ein Schönheitsideal sein sollte, würde ich sie an allen drei Werten übertreffen. Schöner fühle ich mich deshalb nicht…

Kurzum: Vergleiche sind ein sicherer Weg mich elend zu fühlen. Selbst wenn ich bei einem Vergleich „besser“ abschneide als meine Referenzgröße, trägt das schon mittelfristig nicht zur Erhaltung meines Wohlbefindens bei. Ich verdiene mehr als dieser Mann – aber wie lange noch? Ich bin dünner als diese Frau – aber 200 weitere Frauen an Bord sind mal dünner, jünger, schöner als ich… Der Golfpro spielt besser Golf als ich, die Geissens aus dem Fernsehen haben mehr Geld, meine Freundin H. mehr Mut, Gabriel mehr Ahnung vom Programmieren und mein Freund F. im Gegensatz zu mir Durchblick in Sachen Excel oder Fliesen legen.

Und nun?
In der Erziehung, die mir zuteil wurde, hat man Vergleiche benutzt, um mich anzuspornen. Ich sollte so klug sein wie XY, das schaffen, was meine Eltern und Großeltern nicht erreicht hatten, zum Beispiel eine Karriere als Akademikerin. Als junges Mädchen habe ich meiner Mutter einmal versprochen, ich würde eines Tages so viel Geld verdienen (und dann noch einen Zahnarzt heiraten), dass ich ihr dann ein Kajütboot und einen Citroen DS kaufen würde. Andere Menschen hatten schon ein Boot und so einen coolen Citroen… wir reden hier vom Ende der 60er Jahre. Bin ich nun eine Versagerin, weil ich dieses Versprechen nicht eingelöst habe?
Vergleiche setzen voraus, dass es einen richtigen, objektiven Maßstab gibt. So soll etwas sein, und daran messe ich mich, werde ich gemessen. Ich bin Gewinner oder Verlierer. Ich stehe gut da oder ich ziehe den Kürzeren. Wofür?

Mir wird immer deutlicher, dass die Etiketten-Ausgabe, die beim Vergleichen stattfindet, nicht dem Leben dient. Ich als ICH bin gar nicht sichtbar, wenn ich mich ständig an Schablonen anlege. Stimmt, ich kann nicht so gut rechnen. Bruchrechnung zum Beispiel habe ich nicht im Zugriff. Ebenso Prozentrechnung. Eine Einladung, mich schlecht zu fühlen. Wenn ich mich selbst aber als vollständiges Wesen ansehe, mit meiner Fähigkeit, lebendige Vergleiche zu finden, mit meiner Fähigkeit, im Handumdrehen aus meinen Vorräten ein Dutzend Leute zu beköstigen, mit meiner Freude an Musik, auch wenn ich kein Instrument spiele, mit meiner Lebendigkeit an der einen Stelle und meiner Achtsamkeit an der anderen – dann darf ich gewiss sein, dass ich genau so bin wie die Höhere Macht mich wollte. Ich bin liebenswert. Ich bin einzigartig. So wie ich bin, bin ich richtig. Und ich bin dankbar dafür, dass ich genau so bin. Ich bin sozusagen ein Gesamtkunstwerk, ebenso wie Ihr! Wir sind einzigartig! Und wenn ich Kunstwerke vergleiche, sage ich auch nicht, die „betenden Hände“ von Dürer sind aber kleiner (und deshalb schlechter) als Gerhard Richters riesiges Ölgemälde, das unlängst bei Sotheby’s 26,4 Millonen Euro in die Kasse von Eric Clapton spülte. Geht es nicht vielmehr darum, ob mich etwas anspricht, ob meine Bedürfnisse erfüllt sind? Wenn ich neidisch auf die schlanken Frauen im Restaurant schiele, ist vielleicht mein eigenes Bedürfnis nach Leichtigkeit, Schönheit und Beweglichkeit im Mangel. Und damit möchte ich da sein. Aber nicht mit irgendeinem ominösen Standard, von dem ich nicht einmal wirklich weiß, wie er zustande gekommen ist – geschweige denn, was er wirklich mit mir zu tun hat…

So long!

Ysabelle

2 Reaktionen zu “Tod durch Vergleichen”

  1. Anja

    Liebe Ysabelle,
    herzlich willkommen zu Hause – schön, dass Du wieder da bist; Du hast mir gefehlt! Und gleich als nächstes Gute Besserung …. wie blöd, gleich ne Infektion im/am Hals zu haben *tröst*
    Ich danke Dir für diesen wunderbaren Blogbeitrag – habe nach einem furchtbaren Abend, an dem ich mir Leichtigkeit im Umgang mit meinen Wölfen und der GfK gewünscht hätte, sooo gelacht…ich danke Dir für Deinen Humor und Deinen begnadeten Schreibstil (–> wertfreie Beobachtung!!!), die die ersehnte Leichtigkeit in meinen Abend gebracht haben….herzliche Grüße und hoffentlich bis bald
    Anja

  2. Ysabelle Wolfe

    Liebste Anja,
    ach, das erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit! Ich bin immer wieder überrascht, dass ich tatsächlich gelesen werde! Und wenn dann so warme Rückmeldungen kommen – Dorothee hatte mir während des Urlaubs auch eine Nachricht hinterlassen – dann freue ich mich wie Bolle! So, und jetzt geh ich bügeln.

    So long!

    Ysabelle

    … oder schreib ich doch erst die Rechnung?

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