Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Vexierbildern auf der Spur

Hallo, Welt!
Ich zitiere ja immer gern mein „du bist Scheiße, ich bin Scheiße“ und denke dabei an Marshall und seine drehende Handbewegung: Angry, guilty, depressed – wütend, schuldig, depressiv. Entweder du bist schuld, oder ich bin schuld… Auch dabei kann ich wie auf ein Vexierbild jeweils auf eine Seite schauen. Das erlebe ich zur Zeit sehr intensiv, und dass es so ist, möchte ich feiern.
Das erste Mal ist mit dieses Phänomen beim Lesen des Buches Befreiung vom inneren Richter von Byron Brown aufgefallen. Noch nie habe ich ein Buch so langsam gelesen wie dieses. Nach ungefähr zwei Drittel beschreibt der Autor eine Szene in einem Kaufhaus, in die eine erschöpfte Mutter und ein schreiendes kleines Kind involviert sind. Und wie auf Knopfdruck sprang mein Ich von einer Person zur anderen. Ich war die erschöpfte und genervte Mutter und ich war das Kind, dessen Bedürfnisse nach Autonomie, Effizienz, Beteiligung und Gesehen werden keinen Widerhall fanden. Ich erlebte intensiv die Gefühle beider Protagonisten und lernte am Ende des Kapitels, dass ich mich mit den Handelnden identifiziert hatte, kein Beobachter, nicht einmal ansatzweise objektiv war. Und das Zauberwort, es fiel hier schon mal vor ein paar Tagen, heißt Disidentifikation. Ich befreie mich von diesen Rollen und bin einfach.

Ich glaube, die Identifikation steht mir noch oft im Weg, wenn ich jemanden mit GfK unterstützen möchte. In gewisser Weise solidarisiert sich etwas in mir mit dem Handelnden oder Suchenden, ich mutiere zum Bernhardiner, der dem Verschütteten den Weg aus der Lawine zeigt. In mir lebt dann ein kindlicher Eifer, der mir unter Umständen den Blick auf das verstellt, was ist.

In dieser Situation, die mich die vergangenen Tage so beschäftigt hat, gab es ebenfalls dieses Wechselspiel an Identifikationen. Ich war Herr und Sklave, aber dir Identifikation mit dem Sklaven war um Faktor X stärker als die mit dem Sklavenhalter, und es war schwer für mich, mich mit seinen wunderbaren Motiven zu verbinden.

Feiern möchte ich, dass ich die Identifikation erkannt habe. Ich muss nicht darin verharren. Und ich möchte feiern, dass ich noch ein bisschen besser verstanden habe, was es bedeutet, in den Schuhen des anderen mitzulaufen.

So long!

Ysabelle

4 Reaktionen zu “Vexierbildern auf der Spur”

  1. Gabriel

    Schöner, mich zum Nachdenken bringender Artikel. Wenn ich „In den Schuhen des anderen laufen“ höre, muss ich allerdings immer erst reflexartig an folgeden Ausspruch denken, kichern und kann mich dann erst wieder auf inhaltliches konzentrieren:

    “Before you criticize someone, you should walk a mile in their shoes. That way when you criticize them, you are a mile away from them and you have their shoes.”

  2. MarkusC

    Hallo Ysabelle!

    Zu deinem Text fällt mir ein, was ich in „Dienstags bei Morrie“ gelesen habe. Ich habe das Buch grade nicht zur Hand, aber sinngemäß hat er etwa folgendes gesagt:
    Um wirklich Abstand von Gefühlen einnehmen zu können muss ich sie erst einmal voll durchlebt haben. Dann kann ich sie das nächste Mal wenn sie kommen liebevoll beiseite schieben ohne etwas von mir selbst abzuschneiden.

    Ich glaube, dass das den Unterschied zum Dissoziieren macht, den Unterschied zwischen Abstand nehmen und Abschneiden. Und das passt für mich wieder wunderbar zur GFK, dass ich erstmal meine eigenen Themen bearbeitet haben muss, bevor ich anderen Empathie geben kann.

    War das für dich nützlich? Mir fehlt nämlich grade die Ruhe für etwas längeres, und ich bin mir zudem nicht ganz sicher ob du mit meiner Anmerkung etwas anfangen kannst oder ob es für dich ein alter Hut ist. Vielleicht konnte ich ja etwas sinnvolles beitragen 🙂

    Markus

  3. Ysabelle Wolfe

    Hey Gabriel, ich hab seit heute drei Paar neue Schuhe… Story dazu folgt morgen. Aber das möchte ich mal sehen, wie Du in meinen Mary Janes unterwegs bist *ggg* Da kommst Du sicher keine Meile weit!
    Y.

  4. Ysabelle Wolfe

    Hi, Markus,
    wie an dem Posting zum Thema Betriebsleuchten schon beschrieben – ich habs nicht gemerkt, dass ich im Mangel war… das kam erst später. Wenn Du dafür einen tipp hättest, wäre super. Es ist übrigens nicht so schlimm, dass ich schon dissoziiere. Ich glaube, dann würde ich mal kurzzeitig in die Klinik gehen.

    Gruß,
    Ysabelle

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