Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Früher… Da war…

„Manchmal fahre ich noch raus wie früher: offenes Hemd, Schlappen an, frei im Wind. Ich lach mich dann immer über die greisen Silberpappeln auf ihren Harleys schlapp. Die ham vier lange Unterhosen an, und beim Tanken läuft denen das Wasser in die Stiefel.“
Rötger Feldmann, auf die Frage, ob er mit Ende 50 immer noch Rocker sei, Stern Nr. 40/2008 vom 25. September 2008

Früher war alles besser. Früher hatten wir noch richtigen Sommer. Früher schmeckten die Tomaten noch wie Tomaten. Früher hatten die Kinder noch Respekt vor Eltern und Lehrern. Früher war die Luft nicht so verpestet und die Benzinpreise niedriger. Früher brauchte man nicht solche Jobangst zu haben.
Was geht in uns vor, wenn wir den Scheinwerfer in die Vergangenheit richten, wenn wir vergleichen, was in unserer Erinnerung abgespeichert ist oder was wir vom Hörensagen kennen, und zu dem Ergebnis kommen, früher war alles besser?
Verbunden ist so ein „früher war alles…“ häufig mit einem „man müsste“. Denn wenn wir einen Idealzustand benennen, nämlich das Früher, dann ist es ja auch an uns, an den Nachbarn, den Politikern oder den Eltern, für mehr Naturschutz, billigeres Benzin oder bessere Erziehung zu sorgen.
„Früher war alles…“ katapultiert und auch in ein „…und heute ist alles…“. Und in dieser Vorgehensweise nehmen wir nicht wirklich wahr, was heute ist. Wir bewerten das Heute nur durch eine vorgeschobene Linse. Früher war etwas so, heute ist es anders. Indem ich es in Relation setze, nehme ich dem Heute seinen eigenen Stand. Das hatte Gertrude Stein gemeint als sie schrieb, eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Ja, sie ist auch eine Zierpflanze, ja, sie ist auch ein Liebesbote, ja, sie hat auch Dornen: Und dennoch: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Und das Heute ist das Heute und nicht nur ein schlechtes Abziehbild von Damals oder Neulich.
Wenn wir aber am Heute keine Veränderungsmöglichkeit erkennen, weil „die“ eigentlich etwas tun müssten, oder weil „man“ daran nichts ändern kann, spüren wir Ohnmacht, Schmerz, Frust und Trauer. Vielleicht auch Wut und Verzweiflung.
Der Blick auf das „Früher“ zeigt uns unsere Sehnsüchte und Hoffnungen. Sie anzunehmen und umzuwandeln versetzt uns ins Heute. Ich wünsche mir Sicherheit am Arbeitsplatz? Wozu brauche ich diese Sicherheit? Welchen Beitrag kann ich dazu leisten? Mir fällt es schwer, die hohen Benzinpreise zu bezahlen? Welche alternativen Fortbewegungsmittel habe ich? Ich wünsche mir von Jugendlichen Respekt? In welcher Weise bin ich bereit, mich dafür zu engagieren?
Der freie Blick auf das Heute verbindet uns mit unserer Kraft und unseren Gestaltungsmöglichkeiten. Nur für heute kann ich Entscheidungen treffen, nach meinen Werten leben, einen Beitrag leisten.
Heute ist der einzige Tag, dessen Gelingen ich beeinflussen kann.

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