Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Es ist, wie es ist…

Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Erich Fried

Die Erben von Erich Fried sollen sehr eigen sein, was die Verwendung von Frieds Gedichten angeht. Ich hoffe, es gibt keinen Ärger, wenn ich hier darauf Bezug nehme.

In den vergangenen Tagen habe ich zwei Texte eingestellt, die ich schon länger kenne, und die mich im Moment beschäftigen. Zum einen ist es die Geschichte Wer weiß, wozu es gut ist… und zum anderen die Geschichte Gott fügt alles wunderbar und in gewisser Weise haben beide Geschichten den gleichen Inhalt. Ich kann heute zu einer Einschätzung kommen, die unter einem anderen Blickwinkel ganz anders aussieht. Der König, der sich den Finger abschneidet, der Sohn des alten Mannes, der vom Pferd fällt – beides sieht auf ersten Blick aus wie ein Unglück. Im Nachhinein erweist es sich als glückliche Fügung, dass es genau so gekommen ist. Ich kann aus beiden Geschichten die gleiche Lehre ziehen. Es ist, was es ist. Es ist weder gut noch schlecht. Es reicht völlig, wenn ich auf die Tatsachen schaue und überlege, wie ich damit verfahren kann. Der alte Bauer macht die Feldarbeit allein, der Minister des Königs geht fort… Es reicht vollkommen aus, wenn wir mit diesen Situationen umgehen. Ich muss keine tiefere Bedeutung hineinlegen, ich muss mich nicht als Opfer oder Glückskind sehen. Es reicht einfach zu akzeptieren, dass es ist wie es ist.

Heute bin ich bereit, die Realität anzunehmen, ohne daraus eine Bewertung abzuleiten.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet…

Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet.“
Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke
„Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht etwas bessres findet.“
Verballhornung von Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke

Gerade an diesem Wochenende hatten wir eine Märchenhochzeit in Schweden. Kronprinzessin Victoria heiratete ihren früheren Fitnesstrainer Daniel Westing. Es war beiden anzusehen, dass sie sich von Herzen zugetan sind, doch darum soll es heute nicht gehen. Heute möchte ich einen Blick auf die oben zitierte Verballhornung des Schiller-Zitats werfen: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht etwas bessres findet.
Was ist etwas Besseres? Um etwas Besseres zu finden, muss ich vergleichen. Und dann komme ich zu solchen Ergebnissen wie „der Mann verdient mehr“, und „die Frau sieht besser aus“. Wenn wir nach diesen Standards gehen, sind wir auf dem besten Weg, an unserem eigenen Unglück ein paar Henkel anzuschweißen.
Marshall erläutert nicht ohne Grund immer wieder, dass sich mit anderen zu vergleichen eine der einfachsten und prächtigsten Möglichkeiten ist, sich wirklich elend zu fühlen. Dabei geht es darum, was ich nicht habe, wohl aber aber andere:
Welche Qualitäten Mozart im Alter von acht Jahren aufzuweisen hatte im Gegensatz zu mir, zum Beispiel. Ich kann nicht mal Klavier spielen.
Es gibt mit Sicherheit Nobelpreisträger, die jünger sind als ich, und Ex-Top-Models, die besser aussehen als das, was ich morgens im Spiegel sehe.
Eine unserer Kernfragen lautet also:
Bin ich gut genug?
Und ich antworte mit einer Gegenfrage: Wofür?
Wer setzt die Maßstäbe dafür, ob es zum Beispiel „etwas Besseres“ als mich gibt? Wie ist jemand, der „besser“ ist als ich? In welchen Wettbewerb soll ich da eintreten? Wie viele Disziplinen werden ausgetragen? Kochen, Putzen, Stricken, Blogeinträge verfassen, Auto waschen, Bücher schnell lesen?
Das kriege ich alles hin. Französisch sprechen, Fußball spielen, Gehirnoperationen vornehmen, einen HTML-Code für saubere Blog-Ränder erkennen, Crepes auf der heißen Platte wenden, einen Wasserrohrbruch reparieren, einen Fahrradreifen wechseln – Fehlanzeige. Bin ich deshalb ein schadhaftes Modell? Bin ich deshalb ungenügend? Brauche ich ein Selbstverbesserungsprogramm, um Maßstäben gerecht zu werden, die ich nicht einmal kenne? Überprüfe ich mich selbst an dem Qualitätsprogramm, das mir unsere Kultur eingebaut hat? Die Träume meiner Eltern? Kind, aus dir soll mal etwas Besseres werden?
Was brauche ich wirklich?

Ich glaube heute, zuerst brauche ich wirklich Selbstliebe.
Wenn ich mich selbst liebe, muss ich keine Angst mehr haben, die Liebe eines anderen zu verlieren, weil ich nicht gut genug bin, weil er etwas Besseres findet. Vielleicht findet er oder sie einen anderen Menschen, mit dem er (oder sie) mehr von seinen (oder ihren) Bedürfnissen erfüllen kann. Aber das sagt nichts über meine Qualitäten aus. So wie ich bin, bin ich richtig und liebenswert.

Heute will ich mein Herz für mich selbst entdecken und festhalten.

Selbstabwertung und die Folgen

„Wer verstehen will, der muss zuhören können.“
Erhard H. Bellermann, Schmetterlinge im Kopf, Engelsdorfer Verlag, Ausgabe 2006.

Gestern war ich aus beruflichen Gründen mit zwei Frauen unterwegs. Und wieder einmal erstaunte mich zu hören, wie viele von uns mit sich selbst oder über sich selbst reden. „Mein Mann sieht ja gern Dokumentationen im Fernsehen, aber ich bin dafür zu blöd“ oder „wenn ich nicht immer so viel in mich reinstopfen würde, wäre ich auch nicht so fett!“ Andere Menschen aus meinem Umfeld werten sich heute ab, weil sie vor 40 Jahren (!) eine schlechte Note im Abitur eingefahren haben, und wieder jemand anderes bezeichnet sich selbst als unfähig, faul oder schlampig. Gestern dachte ich bei mir, wenn ich für jede dieser Selbstabwertungen in meinem Umfeld einen Euro kriegen würde, bräuchte ich nicht mehr arbeiten zu gehen.
Das erste Mal las ich über diese Selbstabwertungen und die Folgen vor 15 Jahren bei Luise Hay. Sie schlug vor, tagsüber einen Kassettenrekorder mitlaufen zu lassen und sich einmal selber zuzuhören. Damals dachte ich, Hey, eine coole Idee, und habe es nicht gemacht. Inzwischen gelingt es mir recht gut, freundlich mit mir zu sprechen oder zumindest wahrzunehmen, wenn ich das nicht tue. Und dann kann ich diesen Kritiker, diesen eingebauten Erzieher, diesen unzufriedenen Nörgler willkommen heißen. Ich stoße ihn nicht aus, ich schicke ihn nicht weg. Wie in einer Konferenz oder einem Stuhlkreis lade ich ihn ein Platz zu nehmen und seine Ansichten zu vertreten. Er meint es gut mit mir, auch wenn es sich nicht so anhört. Wenn ich seine Bedürfnisse wahrnehme und mit einbeziehe, stehen die Chancen gut, dass ich in Frieden leben kann. Und wenn er sagt, „du bist zu fett“, frage Ich ihn, „bist du besorgt um meine Gesundheit, oder bist du beunruhigt, ob ich mit 20 Kilo Übergewicht noch als attraktiv angesehen werde?“
Der Anteil antwortet mir verlässlich, und oft bin ich dann ganz gerührt, wenn mir klar wird, wie viel Sorge, ja Fürsorge hinter solchen bissigen Bemerkungen steckt. Es braucht nur ein bisschen Übersetzungsarbeit, um mir diesen Schatz zugänglich zu machen.

Heute will ich mich daran freuen, dass es in mir Stimmen gibt, die mein Bestes wollen. Ich werde ihre Worte so übersetzen, dass ich die Schönheit ihrer Botschaft auch feiern kann.

Von Tätern und Opfern

„Täter haben meistens eine längere Lebenserwartung als Opfer und es macht mehr Spaß, Täter als Opfer zu sein.“
Henryk M. Broder, Jüdische Allgemeine, 17. März 2005, S. 3, Freispruch für Israel (Artikel zum gleichnamigen Buch von Alan Derschowitz)

In den vergangenen Tagen stolperte ich immer wieder über das Thema „Opfer sein, zum Opfer gemacht werden“. Mir ist unbehaglich dabei. Opfer sein macht uns klein und hilflos, wir sind einer Macht, größer als wir selbst, ausgeliefert, und diese Macht will uns nichts Gutes.

Ich will und werde – trotz des Zitats von Henryk M. Broder – keine Diskussion über Völkermord und Massenvernichtung anfangen. Mein Verstand ist zu klein, um zu erfassen, was im Dritten Reich passiert ist und was noch heute in vielen Ländern der Erde passiert. Ich möchte stattdessen über meine eigene Opferhaltung nachdenken und in welcher Weise ich diese Haltung auch bei anderen Menschen wieder erkenne.

Ich arbeite seit vielen Jahren in der gleichen Firma. Wie in vielen anderen Unternehmen ist auch hier in den vergangenen Jahren umstrukturiert und rationalisiert worden. Und lange lebte ich in der Opferhaltung. Oh, mein Arbeitsplatz ist nicht sicher… Wer weiß, wann sie mich kündigen… Mein Leben ist nicht planbar, ich habe Angst…

Mein Leben ist seither nicht einen Deut sicherer geworden, noch immer werden jedes Quartal Menschen entlassen. Aber meine Einstellung hat sich geändert und seither habe ich eine Menge Probleme weniger. Es fühlt sich an, als hätte ich Vertrauen zum Leben gefunden. Gelegentlich überfällt mich noch immer die Angst, aber ich habe inzwischen Werkzeuge gefunden, um leichter damit umzugehen.
Aussagen wie „ich werde gemobbt“ oder „der versucht mich zu manipulieren“ oder „ich werde ausgegrenzt“ oder „die haben mich im Stich gelassen“ sind Anzeichen dafür, dass wir uns als Opfer sehen. Wir erleben uns als hilflos, ohnmächtig, verzweifelt, orientierungslos, angstvoll oder bewegungsunfähig. All diese Gedanken haben eines gemeinsam: es gibt Gute und Schlechte, und die anderen sind die Schlechten, denn sie tun oder unterlassen etwas, was bei uns großen Schmerz auslöst.

Ich erlebe es als kühnen Schritt von mir selbst, mich aus diesem Opferdenken zu verabschieden. Ich stelle mir vor, ich hätte zunächst nur einen Ausschnitt eines riesigen Gemäldes gesehen. In meinem Fokus war der Teil zu sehen, auf dem ich vermeintlich zum Opfer gemacht wurde. Doch nun ändert sich die Perspektive. Ich stehe keineswegs im Mittelpunkt von Mobbing, Aussortieren, Ablehnung und Ausgrenzung. Vielmehr kann ich erkennen, dass all meine „Mitspieler“ auf dem großen Gemälde mit sich beschäftigt sind. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigenen Strategien, um sie sich zu erfüllen. Es kann schon sein, dass ich irgendwann vom Rand kippe. Aber dann nicht deshalb, weil mich jemand auf dem Kieker hat, weil ich jemandem oder einer Welle zum Opfer falle, sondern weil Dinge so sind, wie sie sind. Was für eine himmlische Freiheit sich mir durch die neue Blickrichtung eröffnet! Ich bin kein Opfer mehr. Und ich muss mein Gegenüber nicht mehr als Täter entmenschlichen, sondern darf ihn mit all seinen wundervollen Bedürfnissen wahrnehmen.

Heute öffne ich meinen Blick für die Freiheit, die mir zuteil wird, wenn ich die Opferrolle hinter mir lasse.

Leben mit XXL

Jetzt ist Sommer, egal ob man schwitzt oder friert,
Sommer ist, was in deinem Kopf passiert,
es ist Sommer, ich hab das klar gemacht,
Sommer ist, wenn man trotzdem lacht.

Aus einem Song von den Wise Guys

Dieser Tage wurde ich Zeuge einer Diskussion, die mich zunächst ratlos machte. Es ging um einen Artikel in einer Frauenzeitschrift, in dem es sinngemäß hieß: Tolle Mode in XXL.
Ein großer Mann fand diese Zeile unerträglich. „Da ist von oben herab und heißt im Grunde nichts anderes als ,auch für solche Fettsäcke wie dich gibt e noch Klamotten zu kaufen‘.“

Ich schloß die Augen und hörte dem Mann zu. Die Worte verblassten in ihrer Wirkung, aber die Gefühle und Bedürfnisse wurden klarer. Der Mann spürte Schmerz, er war aufgewühlt, betroffen, bitter, geladen, sauer, streitlustig. Ich vermute, seine Bedürfnisse nach Respekt und Selbstvertrauen waren in diesem Moment im Mangel, die Gewissheit, so wie ich bin, bin ich in Ordnung.

„Wahrscheinlich reagiere
ich so intensiv, weil ich selbst damit ein Thema habe“, sagte der Mann schließlich.

Wie geht es mir, wenn ich so einen Vorgang beobachte? Ich bin irritiert, ich habe einen Impuls zu argumentieren, ich möchte darauf hinweisen, dass XXL eine Kleidergröße ist und sonst nichts, und dass die Konnotation, der Beigeschmack, in unseren Köpfen geschieht.
Was für ein Bild entsteht bei mir bei dem Begriff XXL? In mir entstehen Gedanken an einen großen starken Mann, an den ich mich ankuscheln kann. Eine Freundin, mit der ich darüber sprach, sagte, man muss doch das Kind beim Namen nennen. Hier steht doch nicht „moppelig“ oder „fett“. Ich habe selber Kleidergröße 48, natürlich trage ich XXL!

Zurück zu den Wurzeln. Was ist die Beobachtung? Da steht etwas von Kleidergröße XXL. Das ist die Bezeichnung einer Konfektionsgröße. Was in meinem Kopf dazu passiert, ist beeinflusst durch Erziehung, Kultur, persönlichen Geschmack…
Ich habe die Wahl, was ich höre. Höre ich auf dem Kritikohr, dass dem Mann die Überschrift nicht gefällt, bin ich in der Welt von Richtig oder Falsch. Oder bin ich bereit zu hören: ich spüre einen großen Schmerz, weil bei mir ein wichtiges Bedürfnis nicht erfüllt ist!

Heute bin ich bereit, hinter einer Kritik auf die unerfüllten Bedürfnisse zu hören.

Verantwortung für unsere Gefühle

„Mit demselben Gefühle, mit welchem du bei dem Abendmahle das Brot nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexikaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.“ – Heinrich von Kleist, An Wilhelmine von Zenge, 13.-18. September 1800

Es sagt sich so einfach und es lebt sich so schwer. Ich bin für meine Gefühle verantwortlich, nicht du. im Moment wird mir diese Lektion geradezu eingebläut, sowohl als aktiv Beteiligte als auch als Zuhörerin.

Ich bekam eine Mail, die mich sehr amüsiert hat und sich mit den fahnengeschmückten Autos beschäftigt. Obwohl ich sehr unter Zeitstress war, habe ich sie weiter geleitet an einen Haufen Freunde, von denen ich annahm, sie hätten ebenfalls Spaß daran. Dann kommt die Antwort von der ersten Freundin:

Liebe ysabelle,
sehe ich: mail von ‚ysabelle, freue ich mich, aha, eine Entwicklung bezüglich Sommer ist im Gang. Dann lese ich was über Fahnen- könnte witzig sein, trifft aber nicht mein Bedürfnis nach Nähe und Verständigung mit dir, sondern frustriert mich…

und wenige Stunden später kommt die Antwort einer anderen Freundin:

Liebe Ysabelle,
vielen Dank für diese Information  😀

(… und ein wenig Info zu einem anderen Thema. )

Die Ausgangslage war jeweils die gleiche, beide Frauen haben die gleiche Mail bekommen.

Während die eine Antwort bei mir sofort ein schlechtes Gewissen auslöste – oh, jetzt ist sie ärgerlich…  war die zweite Antwort bei mir Auslöser von Erleichterung und Entlastung.

Ich bin gern bereit mir selbst immer wieder zu sagen, ich bin nicht verantwortlich für die Gefühle, die ich bei anderen auslöse, ich bin verantwortlich für meine Handlungen.

Aber es fällt mir unendlich viel schwerer zu akzeptieren: Andere sind nicht für meine Gefühle verantwortlich. Wenn ich mich zum Handeln oder Unterlassen entscheide, ist das ausschließlich meine Verantwortung. Das betrifft „Kleinigkeiten“ wie ausbleibende Telefonanrufe ebenso wie Großigkeiten, was immer sie für mich sein mögen.


Heute will ich mich darauf besinnen, dass ich für meine Gefühle verantwortlich bin. Ich bin auch verantwortlich für meine Handlungen, die durch meine Gefühle angestoßen werden.

Gefühle erkennen

„Das Maß unserer Menschlichkeit bestimmt sich wesentlich danach, inwieweit wir über Worte verfügen, die das Erleben und die Gefühlswelt von Menschen auszudrücken vermögen.“
Eugen Drewermann, An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen

Neulich habe ich mit einem Ehepaar gearbeitet, das Schwierigkeiten hat, sich auszutauschen. Die Frau erzählte etwas und ich fragte den Mann, der mit der schon oft erwähnten kleinen Liste da saß: Welche Gefühle nimmst du bei Gudrun wahr? Suchend ging sein Blick die „Gefühle bei unerfüllten Bedürfnissen“ durch, dann nannte er „frustriert, traurig, ängstlich, einsam und besorgt“. Ich fragte seine Frau: „Hat Heinz deine Gefühlslage erkannt?“ Gudrun sagte, „ja, aber das zählt nicht. Er hat ja abgelesen!“

Viele von uns sind nicht sehr geübt darin, Gefühle zu benennen. Frauen fällt es aufgrund ihrer Erziehung meist noch etwas leichter als Männern. Und oft benennen wir vermeintlich Gefühle und geben stattdessen eine Bewertung ab. Beispiele: Ich fühle mich nicht Ernst genommen. Ich fühle mich missbraucht, ich fühle mich vernachlässigt. Die Gefühle hinter diesen Einschätzungen sind vielleicht Schmerz, Einsamkeit, Ohnmacht oder Angst.

Ich habe ein paar Jahre damit zugebracht, meine Gefühle in sechs simple Kategorien einzuteilen, und in diesen Kategorien gab es keinen Platz für Bewertungen. Diese so genannten Basisgefühle sind Freude, Liebe, Schmerz, Trauer, Wut, Angst und Scham. Es ist schon erstaunlich, dass unser ganzes Spektrum an Gefühlen sich in diese wenigen Oberbegriffe einordnen lässt. Mir hat dieses Schubladendenken geholfen überhaupt erst einmal wahrzunehmen, WAS ich fühle. Ich war zwar wie ein Huhn ohne Kopf unterwegs, aber was ich gefühlt habe, war mir ein Rätsel, und statt Gefühlen äußerte ich Bewertungen oder Schuldzuweisungen: ich bin traurig, weil du keine Zeit für mich hast.

Das Erkennen unserer eigenen Gefühle ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der Gewaltfreien Kommunikation. Und alles, was uns dabei hilft, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen, können wir zu Rate ziehen. Das gilt auch im Kontakt zu anderen. Schon mehr als einmal konnte ich feiern, wenn mein Gegenüber mithilfe einer einfachen Liste erkennen konnte, was in einem Dritten lebendig war, und plötzlich wieder Verbindung möglich wurde. Das „Ablesen“ wird die Tür zum Herzen des anderen.

Heute will ich einfach nur aufmerksam sein, welche Gefühle ich bei mir selbst wahrnehme. Wenn ich meine Gefühle erkannt habe, widme ich mich den Gefühlen meines Gegenübers.

Was ich sage, was andere hören…

„Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub; aber das Auge vernimmt und spricht. In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch.“
Johann Wolfgang von Goethe, Farbenlehre

Zwei Dinge erlebe ich im Zusammenhang mit der Gewaltfreien Kommunikation als besonders schmerzhaft. Zum einen ist es die fehlende Giraffengemeinschaft im Alltag, die Einsamkeit in einem Kosmos, in dem es eben nicht um Richtig oder Falsch geht. Zum zweiten spüre ich meine tiefe Verzweiflung, wenn meine Entscheidung, dieser Wolfswelt nicht mehr anzugehören, Blüten trägt, die so nie gewollt waren. Im konkreten Fall gibt es jemanden, der mein Insistieren auf Gefühle und Bedürfnisse als so schmerzhaft empfunden hat, dass die Person den Kontakt zu mir abgebrochen hat.

Marshall Rosenberg sagt gern, „die ersten 30 Jahre sind die schwersten“, und erntet damit viele Lacher. Ich finde es schwierig empathisch zu bleiben (mit mir und mit anderen…), wenn Menschen in meinem engeren Umfeld reagieren als sei ich einer Sekte beigetreten. „Ich will nicht wieder hören, dass ich zu blöd bin um das mit den Bedürfnissen zu kapieren!“, hörte ich jetzt sinngemäß. Ja, das kann ich von ganzem Herzen verstehen. Niemand möchte sich selbst als blöd ansehen. Es sind unsere Wölfe, die uns so verurteilen, die uns Vorwürfe machen, wenn wir vermeintlich nicht perfekt sind. Und auch das ist unsere eigene Einschätzung, die wir von uns annehmen oder uns dagegen wehren. Das Entscheidende ist, dass ich weder sage oder auch nur denke, du bist zu blöd, sondern dass andere in ihrem Kopf aus meinen Worten filtern, „ich bin zu blöd…“. Gefangen im Kosmos, entweder bin ich Scheisse (oder zu blöd…) oder du bist Scheisse, und dann hab ich lieber keinen Kontakt mehr mit Dir, bevor ich so etwas Schmerzhaftes über mich denke. Und eben das erfüllt mich mit tiefer Verzweiflung. Es geht doch gerade darum, aus diesem Weltbild auszusteigen. Und nun führt mein Beitragen wollen dazu, dass das Imperium im Kopf zurückschlägt.

Ach, Marshall, noch 26 Jahre, bis ich mit solchen Aussagen umgehen kann? Noch 26 Jahre, bis ich in der Lage bin, dann empathisch auf mein Gegenüber zuzugehen, die Herzen (wieder) zu öffnen? An Tagen wie heute zweifle ich, ob ich das jemals schaffe. Doch in meiner Giraffengemeinschaft, umgeben von meinen Freunden, die die gleiche Sprache sprechen, merke ich: Ich bin nicht allein. Und gemeinsam schaffen wir es.

Heute will ich mir ins Gedächtnis rufen, dass ich nicht allein bin. Wir sind viele, die um die Haltung ringen. Und ein unterstützendes Gespräch ist immer nur einen Anruf entfernt.

Empathie und Spiegelneuronen

Früher glaubte man, Spiegelneuronen würden nur auf Bewegungen ansprechen. Nun konnte der Biopsychologe Christian Keysers vom Neuro-Imaging Center im niederländischen Groningen nachweisen, dass die Nachahmerzellen auch dann feuern, wenn Berührungen oder Emotionen wie Ekel betrachtet werden. Wer beim Anblick der Vogelspinne auf James Bonds Brust eine Gänsehaut bekommt und angewidert erstarrt, in dessen Hirn führen die Spiegelneuronen Regie. Der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist nur eine Frage der Quantität. Während beim Fühlen einer echten Spinne Tausende von Haut-Sinneszellen aktiviert werden, feuern beim Zusehen nur wenige Spiegelneuronen. Entdeckt wurden die Gehirnzellen mit dem Drang zur Imitation 1991 in einem Versuchslabor im italienischen Parma. Eigentlich wollte der Neurologe Vittorio Gallese damals nur testen, wie das Gehirn eines Affen arbeitet, wenn das Tier nach einer Erdnuss greift. Mit Elektroden zapfte er einzelne Hirnzellen an und untersuchte ihre Reaktion. Zu Galleses Überraschung feuerten bestimmte Neuronen im Affenhirn nicht nur dann, wenn der Makake zugriff – sondern auch, als der Forscher die Hand nach der Erdnuss ausstreckte.
Aus  „Zeit online“

Millionen Gehirnzellen sind daran beteiligt, wenn wir denken, fühlen, handeln, nach einer Erdnuss greifen. In allen Menschen (von denen, die einen anderen Gehirnaufbau haben, einmal abgesehen) funktioniert das Gehirn nach dem gleichen Muster. Wir können mitfühlen, weil in unserem Gehirn bestimmte Zellen aktiviert werden, wenn wir etwas sehen.Das ist das Geheimnis der Empathie: Ich fühle, was du fühlst. Wir sind also hirnorganisch dazu bestimmt, mitfühlende Wesen zu sein.

Trotzdem sind nicht all unsere Gespräche von Mitgefühl bestimmt. „Wann hat das angefangen?“ fragt der Arzt, wenn wir über Herzbeschwerden reden. „Wie konntest du nur…!“, mahnt die Mutter, wenn das Kind in ihren Augen etwas falsch gemacht hat. „Das haben Sie mal gut hingekriegt“, sagt der Chef. Was haben diese Äußerungen gemeinsam? Sie sind weit weg von Empathie. Sie sind gesteuert vom Intellekt. Fast scheint es so, als können wir uns in der Welt von Richtig oder Falsch abkoppeln von unserer mitfühlenden Seele und auf einen Beurteilungsmodus schalten. Als wählten wir einen anderen Gang im Auto.

Es scheint uns natürlich, Dinge einzuordnen in Richtig oder Falsch. Du bist falsch oder ich bin falsch. Eine andere Möglichkeit sieht dieses System nicht vor. Wir sind völlig entkoppelt von unserer Empathie. Wie können wir auch empathisch zuhören, wenn der andere sagt: „Was du tust, tut mir so weh!“ Wie können wir empathisch bleiben, wenn wir hören: „Du bist zu dumm zum Milch holen“. Unsere Empathie bleibt auf der Strecke, wenn jemand zu uns sagt: „Das liegt in deinem Charakter, dass du immer so übergriffig bist. Das solltest du mal ändern…“

Zu den schwersten Übungen in der Gewaltfreien Kommunikation gehört für mich das empathische Zuhören, das empathische Aufnehmen von solchen Aussagen. Ich arbeite viel mit einer kleinen eingeschweißten Liste, auf der Gefühle und Bedürfnisse stehen. Wenn es möglich ist, greife ich zu der Liste und versuche abzuhaken, welche Gefühle und Bedürfnisse ich beim anderen wahrnehme. Sie ist ein Hilfsmittel, ein Instrument, das mich darin unterstützt, beim anderen zu sein.

Und immer öfter greife ich nach der Liste, um zu gucken: Wie geht es mir, wenn ich das höre? Was brauche ich, wenn jemand so mit mir spricht?

Heute will ich mich daran erinnern, dass ich in erster Linie dafür zuständig bin, mich um mich zu kümmern. Wenn ich anderen Empathie entgegen bringen will, brauche ich eine verlässliche Beziehung zu mir selbst, um mir in jedem Moment treu sein zu können.

Sei dir selber treu

Und diese Regeln präg in dein Gedächtnis:
Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge,
Noch einem ungebührlichen die Tat.
Leutselig sei, doch mach dich nicht gemein.
Den Freund, der dein, und dessen Wahl erprobt,
Mit ehrnen Haken klammr ihn an dein Herz.
Doch schwäche deine Hand nicht durch Begrüßung
Von jedem neugeheckten Bruder. Hüte dich,
In Händel zu geraten; bist du drin,
Führ sie, daß sich dein Feind vor dir mag hüten.
Dein Ohr leih jedem, wenigen deine Stimme;
Nimm Rat von allen, aber spar dein Urteil.
Die Kleidung kostbar, wie’s dein Beutel kann,
Doch nicht ins Grillenhafte: reich, nicht bunt;
Denn es verkündigt oft die Tracht den Mann,
Und die vom ersten Rang und Stand in Frankreich
Sind darin ausgesucht und edler Sitte.
Kein Borger sei und auch Verleiher nicht;
Sich und den Freund verliert das Darlehn oft,
Und Borgen stumpft der Wirtschaft Spitze ab.
Dies über alles: Sei dir selber treu,
Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,
Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
Leb wohl! Mein Segen fördre dies an dir!


William Shakespeare, Hamlet, DRITTE SZENE, Ein Zimmer in Polonius‘ Hause

Um 1600 verfasste William Shakespeare das Drama mit diesem berühmten Monolog. Viele Stellen in dem Stück werden noch heute oft zitiert, so auch der folgende Passus:
Den von dem König und der Königin geschickten Höflingen Rosenkrantz und Guildenstern erklärt Hamlet: “There is nothing either good or bad but thinking makes it so.” (“An sich ist nichts entweder gut oder böse, sondern das Denken erst macht es dazu”) (II.2.250f). Nichts scheint an diesen Worten veraltet oder verstaubt, weder die Worte Hamlets, die das Herz eines jeden GfK’lers lachen lassen, noch die Worte von Polonius, der seinen Sohn Laertes verabschiedet. Am meisten hänge ich an dem letzten Absatz des Monologs, in dem Polonius seinem Sohn einen Rat gibt, den ich so schwer zu befolgen finde. Jahrelang hatte ich diesen Text  untermeiner Schreibtischunterlage, und wieder und wieder habe ich die letzten vier Zeilen gelesen.

This above all: to thine ownself be true,
And it must follow, as the night the day,
Thou canst not then be false to any man.
Farewell: my blessing season this in thee!

Sei dir selber treu, (…) du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.

Wie oft tun wir genau das nicht. Wie oft werden wir uns selbst untreu, wie oft fällt es uns schwer darauf zu vertrauen, dass wir so wie wir sind, richtig und willkommen sind. Wie oft nehmen wir uns zurück, wie oft sagen wir nicht, was wir wirklich denken, wie oft beschwichtigen wir uns selbst mir „so wichtig ist das nicht“ oder „ich will doch nur meine Ruhe!“

Was heißt das, uns selber treu sein?

In erster Linie bedeutet es, eine echte Verbindung zu uns selbst zu haben. Was sind meine Bedürfnisse? Wie geht es mir? Was brauche ich? Die wahre Verbindung zu anderen hat bei uns selbst seinen Ausgangs- und Endpunkt. Wie geht es mir, wie geht es Dir? Empathie ohne Verbindung zu mir selbst ist Co-Abhängigkeit, das habe ich in den letzten Monaten begriffen.

Wie können wir authentisch sein, wenn wir uns immer wieder zurücknehmen, aus welchen Gründen auch immer? Wie sollen wir Kraft schöpfen, wenn wir uns wieder und wieder verstellen, verbergen, nicht mit dem zeigen, was in uns lebendig ist?

Der Weg lautet „Weilverschiebung“.

Gelernt haben wir:

Mutti ist traurig, weil du

In der GfK erkennen wir:

Unsere Gefühle resultieren aus unerfüllten Bedürfnissen. Der nicht erfolgte Telefonanruf kann mich heute traurig machen, morgen mit Erleichterung erfüllen, denn heute bin ich einsam und brauche Gesellschaft, und morgen bin ich erschöpft und brauche meine Ruhe.

Ich bin (…), weil ich (…) brauche.

Die Verantwortung für dich liegt nicht mehr in meinen Händen. Ebenso bist du nicht mehr für meinen Frieden und meine Harmonie, mein Bedürfnis nach Nähe oder mein Bedürfnis nach Unterstützung verantwortlich.

Jetzt kann ich mir selber treu sein und mit Dir in Verbindung treten. Was brauche ich? Und was brauchst du? Wie kann ich dazu beitragen, dass dein Leben wundervoll wird? Und bist du bereit dazu beizutragen, dass mein Leben wundervoll wird – wenn ich einfach so sein kann, wie ich wirklich bin.

Heute will ich mir vor Augen halten, dass ich ein wunderbares Geschenk für andere Menschen bin, wenn ich mir selber treu bleibe.

Sei nicht nett, sei ehrlich…

„Alle Menschen werden ehrlich geboren und sterben als Betrüger.“
Luc de Vauvenargues, Réflexions et maximes

Gibt es Aufruhr unter Euch wegen dieses Zitats? Ich weiß nichts über den Verfasser, aber seine Worte sprangen mich sofort an. Vielen von uns fällt es schwer, ehrlich zu sein oder mit Ehrlichkeit umzugehen. Zwei Beispiele dazu.

Eine Kollegin von mir bat eine Spezialistin um eine Stellungnahme. Die Spezialistin fragte nach, in welchem Umfang sie antworten solle und ob es eine Vergütung gäbe. Als sie erfuhr, dass kein Honorar fließen würde, antwortete sie per Mail: ich habe genug zu tun und kann meine Freizeit auch anders verbringen.
Im Kollegenkreis löste diese Antwort heftige Gefühle aus. Die Wölfe jaulten: Unverschämt! Rücksichtslos! Frechheit!

Also waren offensichtlich die Bedürfnisse nach Rücksicht (vielleicht so etwas wie Einbezogen sein), nach Verbindung und nach Unterstützung im Mangel.

[ich gebe zu, ich habe innerlich über die Antwort gejubelt, sie erfüllte mein Bedürfnis nach Klarheit und Ehrlichkeit. Und! Die Expertin drückte etwas aus, was ich mich oft nicht traue].

Im zweiten Beispiel hatte eine Frau nach dem Verlust eines Familienagehörigen gesagt, nun müssten aber alle an einem Strang ziehen, um die Witwe zu unterstützen. Es könne nicht angehen, dass XY sich allein um sie kümmern müsse/solle. Alle anderen hätten ja schließlich auch ein eigenes Leben. das müsse man XY auch zubilligen.

Diese Aussage führte zu einem großen Zerwürfnis. Die Familienmitglieder kontnen die Worte nicht gut hören. In meinen Ohren klingt es „nur“ klar und ehrlich.

Was führt also dazu, dass wir nicht ehrlich sind, und was führt dazu, dass wir mit der Ehrlichkeit anderer manchmal so schwer umgehen können?

Ich vermute, dass Ehrlichkeit immer dann besonders schwer zu hören ist, wenn beim Empfänger mehrere Faktoren ins Spiel kommen.

1. Er fühlt sich bewertet

2. Es kommt keine (Herzens-) Verbindung zwischen Sprecher und Empfänger zustande.

3. Der Empfänger hört eine Forderung oder eine Drohung mit einem empfindlichen Übel

Im Fall der Familienauseinandersetzung waren die betroffenen Angehörigen vermutlich so mit ihrem Schmerz und ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt, dass sie die Sorge des Sprechers nicht wahrnehmen konnten. Ich vermute, die Angehörigen fühlten sich in ihrem Tun bewertet.
Vielleicht haben sie auch gehört, „das muss jetzt so und so gemacht werden, sonst… “ , also kam bei ihnen eine Forderung an.

Im Fall mit der Spezialistin lag es wohl an der fehlenden Verbindung. „Kann ich Sie irgendwie anders unterstützen? Vielleicht würde Kollege VY Ihnen weiter helfen?“ Wenn wir merken, dass unser Gegenüber unsere Belange genau so wichtig nimmt wie seine eigenen, können wir auch eine offene Absage besser verkraften.

Was brauchen wir selbst in einer Beziehung, um ehrlich zu sein?
Es ist die Gewissheit, dass die Verbindung nicht leidet, wenn wir uns für unsere eigenen Belange eintreten.


Heute will ich mir vor Augen halten, dass ich nicht verantwortlich bin für das, was andere hören, sondern für das, was ich sage. Ich möchte mich daran erinnern, dass es mir um Verbindung geht, und nicht um Recht haben.

Jammerlappen und arrogante Fatzke

„Nicht jammern, sondern etwas tun.“
Original: „Nit jaumman sondern a wos tuan.“
Österreichisches Sprichwort

Dieser Tage hatte ich Kontakt mit einem Mann, der sehr verzweifelt war. „Meine Freundin hat mich verlassen, ich bin so allein! Jetzt bin ich in verschiedenen Single-Börsen registriert, aber da ist auch nichts los… Ach, wäre bloß das Wochenende vorbei und ich könnte wieder zur Arbeit gehen…“
Zusammen mit einigen Freunden machte ich ihm Vorschläge, wie er seine Situation verändern könnte. Doch das Klagen wurde mehr statt weniger, die einzige Strategie, die er zur Verfügung hatte, war „eine neue Freundin“.

Irgendwann wandte ich mich ab, ich spürte Wut und Verzweiflung und meine Wölfe jaulten einen schaurigen Gesang.

Da erinnerte ich mich an ein Interview mit Harald Reinhardt, das mir vor ein paar Wochen in die Hände gefallen war. Er ist Psychosynthese-Therapeut aus Köln. In dem Interview wies er darauf hin, dass es etwas mit unserem Schatten zu tun hat, wenn wir so intensiv auf andere Menschen reagieren. In seinem Beispiel ging es um einen „arroganten Fatzke“, der uns zur Weißglut treiben kann. Und seine Empfehlung lautete: Fühl dich doch einmal in den anderen ein! Was fühlt er? Ist da vielleicht etwas dabei, was Du dir selbst nicht zugestehst? Zu glänzen vielleicht, oder Raum einzunehmen?

Es war mir ganz leicht, mich in den klagenden Mann einzufühlen. Ich spürte seine Hilflosigkeit, seine Verzweiflung und seinen Schmerz. Und als ich mich mit seiner Strategie verbinden konnte, erlebte ich eine ungeheure Entlastung. Ich muss gar nichts tun, ich kann gar nichts tun… Ohne eine Partnerin wird das sowieso nichts…

Ich war in diesem Moment so erleichtert, keine Verantwortung für die Situation zu haben! Wie einfach das Leben auf einmal war, wie leicht, wenn ich das Opfer misslicher Umstände war… Ich war nicht Schuld, ich konnte nichts tun…

Auf diese Weise habe ich sehr intensiv gespürt, wie anstrengend und schwierig mein Leben manchmal ist, und wieviel ich mir oft abverlange. Ich spürte eine Sehnsucht in mir, mich fallen zu lassen und zu klagen. Ja vielleicht mir selbst gegenüber anzuerkennen, dass manche Tage hart sind, und dass ich manchmal keine Kraft mehr habe. Stattdessen toben in mir die Wölfe, ich solle nicht jammern, mich zusammenreißen, etwas tun, mich nicht hängen lassen. Mit anderen kann ich oft einfühlsam sein, mit mir selbst nur selten.

So kam es dazu, dass ich dem vermeintlichen Jammerlappen sehr dankbar war. Er brachte mich in Verbindung mit meiner zarten Seite, die ich mir im Alltag oft nicht zubillige.


Heute will ich darauf achten, was mich meine Urteile über andere Leute lehren. Was erlauben sie sich, was ich mir nicht zugestehe? ich bin dankbar für die Lektionen, die ich durch sie lernen darf.

Die Gurke

„Eine bittere Gurke? Wirf sie weg! Dornensträucher im Weg? Weiche ihnen aus! Das ist alles. Frage nicht noch: Wozu gibt es solche Dinge in der Welt?“ – Selbstbetrachtungen VIII, 50 von Mark Aurel

Vor ein paar Wochen habe ich ein neues Spielzeug bestellt und Freitag soll es geliefert werden. Ich staune über mich selbst, wie mich dieses Etwas in Atem hält. Inzwischen weiß ich, dass die Lieferung in Holland dem Spediteur übergeben wurde, ich habe vergangenen Samstag mit meinem Paketboten einen Deal gemacht, wie ich an das Päckchen komme. Ich habe Pläne geschmiedet und versucht, alles unter Kontrolle zu kriegen, denn dummerweise muss ich Freitag auf Geschäftsreise und dann ist niemand hier, um das Paket anzunehmen.

Dornensträucher im Weg…
Inzwischen habe ich erfahren, dass das Paket gar nicht mit DHL versandt wird, sondern mit UPS. Ich bin der Verzweiflung nah, habe mit UPS telefoniert, mit dem Callcenter des Anbieters in Barcelona (!), ich habe versucht, meine Schwiegertochter als Sitzwache anzuheuern oder meine sehr alte Nachbarin zu becircen, am Freitag nicht aus dem Haus zu gehen, sondern meine Sendung anzunehmen.

Ich merke, wie ich auf sehr hohem Niveau vor mich hin kreisel.

Doch kurz bevor mich mein eigenes Treiben aus der Bahn wirft, lande ich wieder bei Mark Aurel. „Frage nicht noch, wozu gibt es solche Dinge auf der Welt.“ Es reicht, wenn ich mich so gut ich es kann um die Abwicklung dieser Lieferung kümmere. Ich muss nicht bis ins letzte Detail versuchen, das Schicksal zu beeinflussen. Ich nehme meine Bedürfnisse nach Leichtigkeit, Spaß, Sicherheit, Unterstützung und Beteiligung wahr. Ich möchte dieses Ding in den Händen halten und einfach nur jubeln, feiern, Freude erleben. Ich habe versucht, möglichst viele Eventualitäten aus dem Weg zu räumen, die bittere Gurke wegzuwerfen, dem Dornenstrauch auszuweichen. Mehr kann ich nicht tun. Und mehr muss ich auch nicht tun.


Heute verabschiede ich mich von der Idee, perfekte Lösungen zu finden. Ich gebe mein Bestes. Ich tue alles, was mir möglich ist, um mein Problem zu lösen, dann lasse ich los. Ich vertraue darauf, dass genau das geschehen wird, was für mich das Beste ist.

Endlich gewaltfrei golfen

„Ich habe mit Golf angefangen, spiele Tennis und jogge. Das muss ich auch, weil der Schneider nix mehr rauslassen kann.“ – Heribert Fassbender im Stern Nr. 35/2008 vom 21. August 2008, S. 154

Bei keiner anderen Beschäftigung zeigt sich mein inneres Team so lebendig wie beim Golfen. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich in den vergangenen Jahren in den Boden gehackt habe, natürlich stets begleitet von hämischen inneren Kommentaren. Gern von der Güte: Komm, geb’s auf, du lernst es nicht mehr!

Ganz anders, wenn plötzlich ein Ball abhebt und genau in die Richtung geht, die ich haben wollte. Das hat fast einen spirituellen Touch. Wenn dann der nächste Schlag wieder einen Klumpen Erde in die Luft jagt, zitiert mein innerer Gutachter gern den kürzesten Golfer-Witz: „Ich kann’s…“

Golf spielen ist also für mich eine Einladung, meine Wölfe willkommen zu heißen. Andere mögen diese Einladung beim Strümpfe stricken hören, doch das gelingt mir inzwischen ziemlich gut. Ich vermute, jeder von uns hat eine Herausforderung, bei der es wieder und wieder nicht klappt. Zehn Finger blind schreiben ist so eine Sache für mich, oder ein gerades Loch mit einer Bohrmaschine drillen.

Golfen ist für mich eine Tätigkeit mit Nebenwirkung. Aus irgend einem Grund scheinen meine Gutachter dabei ganz dicht unter der Oberfläche zu sein, und ihre Kommentare kommen zu schnell, um noch maskiert zu sein. Sie argumentieren harsch und direkt. Keiner der Trainer, die versucht haben, mir das Spielen beizubringen, hatte je so einen Ton am Leib. Ich hätte mich wahrscheinlich auch auf der Stelle umgedreht und hätte den Platz verlassen, wie ich es einmal bei einem österreichischen Skilehrer getan habe: „Jo, Ysabelle, wo foahrst dann hi?“, wo hi wohl? Ins Tal!

Es ist schmerzhaft zu erkennen, wie ich mit mir selbst umgehe. Es ist schwer zu hören, in welchem Ton ich mich runterputze. Und es macht mich traurig, weil ich weiß: Beim Golfen sind die Stimmen ganz deutlich zu verstehen. Aber in dutzenden anderen Situationen am Tag sind diese Stimmen ebenfalls da, nur ich nehme sie gar nicht wahr, weil ich nicht in so einer klar fokussierten Situation bin. Im Lärm des Alltags gehen die Stimmen vermeintlich unter. Es steht allerdings zu befürchten, dass mein Unterbewusstsein sehr wohl zuhört und sich unter diesen Schlägen duckt.Wenn ich also diesen Gutachtern während des Golfspielens Einfühlung gebe, habe ich eine Chance, dass mein Gehirn in anderen Situationen ebenfalls lernt: Uuups! Der Wolf will ja nur, dass ich mein Ziel nicht aus den Augen verliere… er will mich ja nur davor schützen, in meinem Eifer nachzulassen. Er will doch nur sicher stellen, dass ich noch lange Freude an diesem Spiel habe… Schade nur, dass er (noch) kein Giraffisch spricht!

Heute will ich sorgfältig darauf achten, wenn Wölfe, Richter und Lehrer ihre Stimme erheben. Ich kann ihre Worte übersetzen und mich daran erfreuen, dass sie von ganzem Herzen mein Bestes wollen.

Delikatessen konservieren

Mein Administrator hat mich heute sehr glücklich gemacht. Er hat mir einen neuen Editor eingebaut, ich bin ganz hin und weg! Jetzt kann ich die Schriftgröße verändern, 😀 Smilies mit einem Mausklick einfügen, Absätze formatieren. Mal sehen, wie ich damit klarkomme. Außerdem hat er eine Funktion eingebaut, mit der Kommentatoren jetzt anklicken können, dass Sie über Antworten informiert werden möchten. Ist das nicht super?! Und diese neue Leiste hier über meinem Schreibfenster erfüllt noch dazu mein Bedürfnis nach Spiel und Leichtigkeit.

Es ist eine so wunderbare Sache, wenn man Unterstützung bekommt! Ich möchte das immer und immer wieder lautstark feiern, denn in der Vergangenheit hatte ich oft Situationen im Fokus, in denen mein Bedürfnis nach Unterstützung eher nicht erfüllt war. Dazu ein Zitat, das ich sehr liebe:

„Nach der Beschaffenheit der Gegenstände, die du dir am häufigsten vorstellst, wird sich auch deine Gesinnung richten; denn von den Gedanken nimmt die Seele ihre Farbe an.“Selbstbetrachtungen V, 16, von Mark Aurel


Was heißt das konkret? Es bedeutet: Das, was wir besonders oft denken, verfestigt sich in unserem Gehirn. Wir haben eine neuronale Autobahn angelegt, die dazu führt, dass wir glauben, wie hätten nie Unterstützung. In der Folge fallen alle erlebten Unterstützungen durch den Rost, wir nehmen sie nicht wahr.

Das Gegenmittel ist Feiern! Wenn ich all die erhaltene Unterstützung feiere, wenn ich mir notiere, was mir besonders gut gelungen ist, schaffe ich eine warme Wanne voller Freude, in die ich jederzeit wieder eintauchen kann. Neulich, das Mittagessen, aus dem gezaubert, was gerade im Haus war. Und es war köstlich! Diese eine kreative Idee, die mir so viele wunderbare Bedürfnisse erfüllt hat! Dieser eine Einkauf, an dem ich so viel Freude hatte…

Ich möchte Euch zurufen: Schreibt! Es! Euch! Auf!

Und wenn Ihr das nächste Mal geknickt seid, Euch einsam fühlt, greift zu Euren Notizen, badet in diesen wunderbaren Gefühlen, die ausgelöst werden, wenn Euch ein Bedürfnis erfüllt wurde!

Heute bin ich bereit mir eine Notiz zu machen, wenn ich eine besondere Freude erlebt habe. Und viele solcher kleiner Perlen werden dazu beitragen, dass ich meine Tage so wahrnehme, wie sie sind: reich und erfüllt.

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