Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Von Richtern, Gutachtern und Giraffenohren

Wenn mein innerer Richter eine lebensfreundliche Erziehung genossen hätte, dann würde er mein Verhalten aufmerksam verfolgen, und wenn er sehen würde, dass ich etwas tue, was an meinen Bedürfnissen vorbei geht, würde er fragen: „Dient das, was du da tust, dem Leben?“ Wenn nicht, dann würde er fragen: „Was könntest du tun, um einen effektiveren Weg zu finden, der dich weniger kostet?“
Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen mit Gewaltfreier Kommunikation, S. 36

Ein Urteil ist ein Stop-Signal. Es lädt uns zum Nachenken ein.

Ein Urteil ist ein Stopsignal. Es lädt uns zum Nachdenken ein.

Urteile sind in unserem Kopf allgegenwärtig. Wir taxieren unser Gegenüber in der Bahn und urteilen über seinen Haarschnitt, ihr Nasen-Piercing. Wir ärgern uns über den frechen Rempler auf der Treppe oder die muffelige Nachbarin, die nicht einmal grüßen kann.
Unsere Beobachtungen können uns helfen, Dinge zu sortieren. Ist etwas für uns nützlich oder nicht? Droht uns Gefahr oder gereicht uns etwas zum Vorteil?
Gefällt werden all diese Schnellurteile von einem inneren Richter, einem Persönlichkeitsanteil, der uns darin unterstützen will, uns „richtig“ zu verhalten.
Und damit sind wir auch schon bei den Schwierigkeiten. Was ist „richtig“, was ist „falsch“? Aus welchem Jahrzehnt unseres Lebens stammen diese Einschätzungen? Erschwerend kommt hinzu, dass unser innerer Richter quasi ein Überbleibsel aus der Zeit ist, in der wir noch nichts von Gewaltfreier Kommunikation wussten. Er spricht also nicht giraffisch, sondern hat oft einen scharfen Ton wie auf dem Kasernenhof der Kaiserzeit.


» Der Offizier schnauzt einen Soldaten auf dem Kasernenhof an:“Mann, wie laufen Sie denn hier herum? Was sind Sie denn im Zivilleben?“Der Soldat eingeschüchtert: „Selbstständiger Kaufmann, Herr Hauptmann!“Der Offizier: „Auch Angestellte?“Der Soldat: „Ja, zehn!“Der Offizier wieder: „Was wuerden Sie denn sagen, wenn Sie einen Angestellten beim Herumlungern erwischen?“Der Soldat: „Entlassen, ich würde ihn auf der Stelle entlassen!“ «

Wir wollen uns in Erinnerung rufen, dass dieser innere Richter Gutes im Schilde führt. Er möchte mit seinen Einschätzungen, Ermahnungen und Ordnungsrufen dafür sorgen, dass wir uns möglichst normen-konform verhalten, dass wir keine Schwierigkeiten bekommen, dass es uns gut geht. Selbst wenn er einen geifernden Ton anschlägt, so ist doch dieser Persönlichkeitsanteil im wahrsten Sinne des Wortes ein Gut-Achter, also einer, der gut auf uns achtet.

Alles was jetzt fehlt, ist ein bisschen Übersetzungsleistung.
Mein Gutachter ist besorgt? Welchen Rat gibt er mir? Was steckt hinter seinem Kasernenhofton? Wenn ich das erkannt habe, kann ich ihm Einfühlung geben und ihm für seine Aufmerksamkeit danken. Er dient unserem Schutz – wenn wir ihm aufmerksam zuhören und seine Worte in giraffisch übersetzen.

Heute will ich darauf achten, was meine Urteile mir über meine Bedürfnisse verraten.

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