Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Erst Einfühlung, dann Belehrung

<...> es dauerte ein Jahr, bis ich unser Verhältnis wieder bereinigen konnte, und das ging erst, als ich ihm die Empathie gegeben hatte, die er brauchte. Und er brauchte viel Empathie. Da habe ich wirklich etwas dazugelernt. Seitdem betone ich immer: Erst Einfühlung, dann Belehrung. Bevor ein Mensch nicht die Empathie bekommt, die er braucht, besonders dann, wenn er Angst hat oder verletzt worden ist, ist er nicht bereit, sich in seinen Gegner einzufühlen.
Marshall B. Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, S. 69

Es klingt so einfach und doch macht es mir immer wieder Schwierigkeiten, diesen Satz zu beherzigen. Wenn jemand etwas erzählt – besonders wenn es um Schmerzen und Verletzungen geht, spüre ich oft den Impuls, meinem Gegenüber zu erklären, was in seinem Kontrahenten gerade lebendig gewesen sein mag. Dabei kenne ich es aus eigenem Erleben, dass ich in solchen Momenten alles dringender brauche als eine „Entschuldigung“ für das Verhalten des anderen. Ich möchte gesehen werden, ich brauche Verständnis, Sicherheit, vielleicht Unterstützung, oder fehlt mir nach diesem Anlass Zugehörigkeit, Verbindung, Gemeinschaft oder Wärme. Wenn bei mir selber Bedürfnisse so sehr im Mangel sind, ist kein Giraffenohr für meinen „Gegner“ frei. Ja, manchmal wird mein Ärger und meine Frustration sogar noch größer, wenn ich den Eindruck gewinne, die Sympathie meines Freundes gelte meinem „Gegner“, weil mein Freund gerade genau so kritisch oder wertend über mein Verhalten spricht wie der Mensch, mit dem ich gerade einen Konflikt erlebt habe…

Was kann ich tun, wenn ich Ratschläge bekomme statt Einfühlung? Welche Antwort kann ich geben, wenn der Freund Belehrungen statt Empathie für mich hat?

Wenn ich sehr im Mangel bin, könnte ich zum Beispiel sagen: „Das kann ich im Moment schlecht hören, weil ich selbst gerade dringend Enpathie brauche. Kannst Du noch einmal prüfen, ob es Dir möglich ist, mir jetzt Einfühlung zu geben?

Wenn ich mich belastbar und stark fühle, habe ich die Möglichkeit, dem anderen Einfühlung zu geben: „Bist du erschrocken über das, was Du gehört hast, und ist es dir wichtig, dass auch die Position meines Kontrahenten gesehen wird?“

In guten Stunden kann ich mich daran erinnern, dass die Reaktion meines Gegenübers oft weniger mit mir als mit ihm selbst zu tun hat. Es sind seine Ängste und seine Werte, um die es bei ihm oder ihr geht. Und ich bin nicht verpflichtet, daraus eine Bewertung meiner Person abzuleiten. Und erst recht keine Verurteilung!

Heute will ich darauf vertrauen, dass ich die Einfühlung bekomme, die ich brauche. Wenn mein Gegenüber mir die Empathie gerade nicht geben kann, möchte ich mich darauf besinnen, dass einer von 6,7 Milliarden Menschen auf dieser Erde wahrscheinlich gern bereit ist, mir Empathie zu geben. Ich muss ihn nur finden. Und vielleicht steht sein Name in meinem Telefonbuch!

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