Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Dankbarkeit 4.12.2022

Hallo, Welt!

Dieser Tage meinte ein Kollege, er könne das GFK-Ritual „Feiern und Bedauern“ (im Original: Celebrating and Mourning) nicht gut ertragen. Er erlebe es als eine Art ansteckendes Gejammer.

Es macht mich ein bisschen traurig, diese Einschätzung zu hören.  Gleichzeitig kann ich nachvollziehen, worum es dem Kollegen geht: Sitz nicht in der Ecke und jaule, sondern tu etwas, um die Welt zu verändern, die dir so nicht gefällt …

Ich habe schon öfter Gruppen erlebt, bei denen das Jammern ansteckend war. Dabei denke ich, das war nicht die Absicht, die Marshall mit der Einführung dieses Rituals verbunden hat. Hier ein Beispiel:

Als mein Sohn ungefähr zehn Jahre alt war, hatte er aus Gründen eine Operation und musste anschließend Tabletten einnehmen, was ihm sehr schwer fiel. Alle Geduld, gute Zureden, Pulverisieren und in Wasser auflösen – nichts funktionierte. Wir standen im Badezimmer des Krankenzimmers, er nahm einen Schluck von der Mischung und würgte es mir entgegen. Ich holte aus und knallte ihm eine – schaffte es gerade noch,  die Wucht rauszunehmen. Aber es blieb ein Schlag ins Gesicht. Unverzeihlich. Für mich. Er selbst sagt, er kann sich nicht erinnern. 

Eine Kinderhand mit vielen Tabletten

Zahlreiche Male habe ich mit diesem Beispiel inzwischen gearbeitet. Immer wieder hatte ich mit Urteilen zu tun. Die „Widerborstigkeit“ des Kindes, meine eigene „Unfähigkeit“, „mangelnde Impulskontrolle“, „schlechte Mutter“ … die Liste könnte ich noch lange fortsetzen.

Im Trauerprozess lernen wir, uns selber anzunehmen, mit all unseren Reaktionen, auch denen, die weniger als wunderbar sind. Wir erkennen unsere unerfüllten Bedürfnisse. In Bezug auf meinen Sohn hätte ich mir Verstehen, Verbindung und Kooperation gewünscht. In Bezug auf mich selbst Einfühlung (in das Kind und in meine eigene Not), Gelassenheit, Vertrauen (wenn er es nicht schlucken KANN, wird es andere Möglichkeiten geben), Verständnis, Beitragen, Respekt, Wertschätzung …

Es ist schmerzhaft, all diese unerfüllten Bedürfnisse wahrzunehmen und die Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit von damals noch einmal zu spüren. Dazu gehört auch, sich bewusst zu machen, welche Bedürfnisse wir uns in dem betreffenden Moment mit der (heute unerwünschten) Reaktion erfüllen wollten. Solange ich mich in der Welt von Richtig und Falsch bewege, ist immer einer von uns beiden oder gegebenenfalls auch das „unfähige medizinische Personal“ SCHULD an der Misere. Mein Eindruck ist, dass diese Art zu denken den Konflikt lebendig hält. Ich kann die Situation verdrängen, aber wenn die Erinnerung hervorlugt, bin ich sofort wieder bei „ja, aber das Kind ….“ oder „ich hätte …. machen müssen“. Abgespeichert wird das Ereignis zusammen mit Schuld und Scham, und die melden sich immer wieder neu, wenn die Erinnerung aufpoppt. 

Wenn ich mich hingegen mit den unerfüllten Bedürfnissen auf allen Seiten verbinde, verändert sich die Gefühlslage. ich „fühle“ mich nicht mehr schuldig. Ich fühle mich hilflos, ich bin traurig. Ich bin einsam. Ich bin verzweifelt und ratlos. Ich übernehme die Verantwortung für mich, für mein Handeln und meine Gefühle. Ich kann meinen Sohn um Entschuldigung bitten, ich kann überlegen, wie ich in einer ähnlichen Situation „besser“ reagieren könnte.

Fatalerweise erlebe ich ähnliche Situationen mit meiner Enkeltochter, wenn sie ein angebotenes Lebensmittel nicht runterbringt. Dann kann ich heute ohne Scham im Mitgefühl bleiben, meine eigenen aufgewühlten Gefühle mit mir ausmachen und freundlich und klar reagieren.

Auch das ist ein Geschenk der GFK. Mein Trauern macht den Weg frei aus dem Dschungel von Schuld und Scham. Es ist nichts falsch mit mir. Ich habe in einer bestimmten Situation leider nicht so reagiert, wie ich es mir wünsche. Wie kann ich das beim nächsten Mal besser machen?

Für diesen Lernprozess bin ich zutiefst dankbar.

So long!

Ysabelle

 

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