Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Leben mit 6,7 Milliarden Möglichkeiten

Wenn ich also die Erfüllung meiner Bedürfnisse von bestimmten Personen entkoppeln kann – es gibt sechs Milliarden Menschen auf der Welt – dann finde ich sicher jemanden, der etwas für mich tun kann. Mich selbst eingeschlossen. Ich kann auch etwas tun, zum Beispiel kann ich mir Selbsteinfühlung geben, um mein Bedürfnis nach Empathie zu nähren.

aus: Marshall B. Rosenberg im Gespräch mit Garbiele Seils:
Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation
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Wer mit dem Konzept und der Haltung der Gewaltfreien Kommunikation nicht vertraut ist, könnte glauben, dass die Bedürfnisse nach Wärme, Nähe etc. recht egoistische sind.
Wenn die Bedürfnisse nach Nähe, Wärme, Intimität so ausgelegt werden, dass sich daraus beim Gegenüber eine Verpflichtung ergibt, diese Bedürfnisse zu  erfüllen, ist das sicher eine Haltung, die nicht dem Leben dient. Ich bin geil und du musst jetzt mit mir schlafen. Ich habe Hunger, du musst mir was zu essen machen. Ich will meinen Ärger vom Tag loswerden und Du, verdammt noch mal, bist der Mensch, der mir zuhören MUSS!
Das entspricht nicht meinen Vorstellungen von Nähe, Intimität, Verbindung und Kontakt. Wo sind da Respekt, Wertschätzung, Autonomie, die Freiwilligkeit?

Ich glaube heute, dass unsere Bedürfnisse weltweit universell sind. Alle 6,7 Milliarden Menschen haben die gleichen Bedürfnisse. Sie brauchen Essen und Wasser, Schutz, Struktur, Autonomie, Unterstützung, Gemeinschaft, Sexualität, Spiritualität, Sinnhaftigkeit, Licht, Schlaf…

Wir sind es in unserer „Zivilisation“ sehr gewohnt, diese Bedürfnisse mit bestimmten Strategien zu erfüllen. Manche Leute gehen am liebsten zu McDonalds, wenn sie Hunger haben. Ich gehe meist in die Kantine, weil das bequem ist. Andere schmieren sich ein Brot, weil sie keine Lust haben zu kochen. Sich etwas kochen ist genau so eine Strategie wie zu McDonalds gehen. Für viele Dinge haben wir Lieblings-Strategien. Viele Menschen leben zum Beispiel in einer festen Partnerschaft, weil sie so glauben, bestimmte Bedürfnisse besonders effektiv bedienen zu können. Zum Beispiel nach Sex. Es ist ja noch nicht all zu lange her, da waren die Frauen zum Sex verpflichtet, und sich zu weigern war ein Scheidungsgrund. Mich gruselt es bei dem Gedanken, zum Sex verpflichtet zu sein.

Wenn ich heute bereit bin, mich von dem Gedanken zu lösen, der andere schulde mir etwas,

Wenn ich mich dafür entscheide, nur noch zu nehmen, was mir freiwillig geschenkt wird,

Wenn ich bereit bin, für all meine Bedürfnisse selbst die Verantwortung zu übernehmen,

Dann können sich ganz neue Welten eröffnen.

Ich bin überzeugt, dass von 6,7 Milliarden Menschen garantiert einer heute Abend Lust hätte, mit mir zu essen, zu telefonieren, zu kuscheln oder spazieren zu gehen.

In meinem Adressbuch stehen rund 300 Namen. Mit Sicherheit ist EIN Mensch dabei, den ich am Abend anrufen kann, wenn ich total frustriert und aufgelöst von der Arbeit komme.

Wenn ich es Leid bin, allein ins Kino zu gehen, wird es sicher im Kollegenkreis den einen oder anderen Bekannten geben, der Lust hat, einen Film zu sehen.

Was ist mein Bedürfnis? Und welche Strategien kann ich finden, um es zu erfüllen?

Ich erfülle mir zum Beispiel gelegentlich mein Bedürfnis nach Wärme und Berührung, indem ich mir eine Massage gönne. Am liebsten eine ayurvedische.

Mein Bedürfnis nach Gemeinschaft erfülle ich mir in  meinen Meetings am Mittwoch, durch vertrautere Kontakte mir einzelnen Kollegen, durch die die Freunde, die ich durch verschiedene Aktivitäten gefunden habe. Meine GfK-Familiengruppe trifft sich zu regelmäßigen Telefonkonferenzen. Ich habe außerdem Freundinnen, die mich gern besuchen.

Ich erfülle mir mein Bedürfnis nach Bewegung in meinem neuen Fitnessstudio. Andere gehen vielleicht tanzen, joggen, zum Badminton. Wir entscheiden uns für verschiedene Strategien, um ein bestimmtes Bedürfnis zu erfüllen. (Und sicher erfüllen wir uns mit unserer jeweiligen Entscheidung auch noch andere, wunderbare Bedürfnisse).

Ich gewinne eine unglaubliche Freiheit, wenn ich nicht mehr EINEN Menschen für die Erfüllung (all) meiner Bedürfnisse verantwortlich mache, für zuständig erkläre. Wenn der Mensch Lust hat, gerade mein Bedürfnis nach Nähe, Intimität, Austausch, Gemeinschaft zu erfüllen, wunderbar. Aber es gibt keine Pflicht dazu! Und! Ich habe mindestens 6,7 Milliarden Möglichkeiten, meine Bedürfnisse zu erfüllen.

Hurra für jeden Tag, an dem ich diese Ketten sprengen kann!

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