Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Angst essen Seele auf

Hallo, Welt!
Heute geht es mal rund ums Thema Angst. Ich hatte dazu ein paar interessante Begegnungen mit mir selbst und anderen.
Ein Freund (60) berichtete heute, sein Vermieter habe ihn wegen des schlechten Zustands der Außenanlage schriftlich getadelt. Tatsächlich war der Garten verwildert und ungepflegt. Der Freund berichtete, er habe eine schlaflose Nacht voller Angst und schlechtem Gewissen gehabt. Am nächsten Tag rief er dann bei der Firma an, die seit Jahren den Garten pflegt. Es stellte sich heraus, dass es dort ein großes Durcheinander beim Personal gegeben hatte. „Sein“ Garten war schlicht vergessen worden. Die Firma wird beim Vermieter anrufen, sich für den schlechten Zustand entschuldigen und alles schnellstmöglich in Ordnung bringen.

Ein erwachsener Mann schläft nicht, weil der Rasen nicht gemäht ist?

Ein anderer Freund von mir lebt in einer Partnerschaft, die er nicht mehr bejaht. Ich weiß nicht, mit wem er sich über dieses Thema austauscht, ich bin mutmaßlich nicht der einzige Mensch. Nur mit einem Menschen spricht er darüber nicht: Mit seiner Partnerin. Er hat Angst, sie zu verletzen.

Wenn ich an meine langjährige Partnerschaft denke – was hätte mich mehr verletzt? Die Tatsache, dass mein Freund mich zwar schätzt, sehr mag und gern mit mir lacht, aber keine Partnerschaft mit mir (mehr) möchte, oder die Tatsache, dass anscheinend andere Leute eher über die Gedanken und Gefühle meines Partners informiert sind als ich? Letzteres, Freunde! Wie schmerzhaft, dass er mit anderen darüber spricht, aber nicht mit mir…

Heute Morgen hatte ich ein kurzes Telefonat mit einer Freundin, die mir sehr wichtig ist. Dieser Tage hatte sie mich in einen Auftrag mit reingenommen, der ihr zugeflogen war. Ich habe daraufhin dem Kunden eine recht umfangreiche Mail mit einer Kurzanalyse geschickt und einen Besprechungstermin vorgeschlagen. Auf diese Mail gab es keine Antwort. Meine Freundin meinte heute morgen, ich solle den Kunden noch einmal anschreiben und nachfragen, ob die Mail bei ihm angekommen sei. Ich möchte das nicht tun, denn zum einen glaube ich, dass der Kunde die Mail erhalten hat und einfach andere Dinge zurzeit für wichtig erachtet. Zum anderen ist das kein Auftrag, um den ich mich reiße. Warum soll ich hinter jemandem herrennen, der sich nicht meldet?

Die Reaktion meiner Freundin habe ich als sehr heftig wahrgenommen und ich konnte während des Telefonats nicht auf meine Giraffenohren zugreifen. Es reichte gerade noch für solche gestammelten Halbsätze wie „das kann ich so nicht unterschreiben“ und „dazu möchte ich gern in Ruhe mit dir reden, aber nicht am Telefon, während du mit dem Auto unterwegs bist…“. Immerhin was.

Im Nachhinein habe ich versucht herauszufinden, welche Bedürfnisse in ihr lebendig waren. Wertschätzung vielleicht. Respekt für den Kunden oder vielleicht noch mehr für den Menschen, durch den der Auftrag angeflogen kam. Wirksamkeit, Unterstützung ihrer Arbeit. Verbindung. All so etwas könnte es gewesen sein. Während des Gesprächs habe ich einfach nur gespürt, dass ich Angst hatte. Angst um die Freundschaft, Angst um unsere Verbindung, Angst, dass von mir Dinge erwartet werden, die ich nicht tun möchte…

Angst war heute sehr präsent. ich bekam eine sehr wohlwollende Rückmeldung über eine Situation, die sich gestern ereignet hat. Als ich dazu etwas nachfragte, erhielt ich auch noch eine Information, die ich nicht so gut hören konnte. Im Verlauf der kommenden Stunde überfiel mich die Angst mit einer Heftigkeit, wie ich sie lange nicht erlebt habe. Anscheinend hatte mich die Bemerkung direkt in die Kindheit katapultiert. Mein Gehirn tickerte solche Fehlermeldungen wie „halte den Mund, wenn Erwachsene reden“. Vor ein paar Jahren habe ich mal verstanden, dass meine kindliche Lebendigkeit und Kreativität in vielen Situationen nicht willkommen war. Ich galt als „frech“ und „aufsässig“ und „vorlaut“ und „neunmalklug“. Heute würde ich sagen, ich hatte ein ausgeprägtes Bedürfnis beizutragen, Kreativität, Humor, das Bedürfnis gesehen zu werden, ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und das Bedürfnis so zu sein wie ich bin. Und das war nicht gern gesehen.

Die von mir sehr gern zitierte Melody Beattie schreibt in der Tagesmeditation vom 5. März:

Manchmal befiehlt unsere instinktive Reaktion in einer neuen Situation: Sei nicht so, wie du bist.

Wer sonst könnten wir sein? Wer sonst möchten wir sein? Wir brauchen nicht anders zu sein, als wir sind.

Das größte Geschenk, das wir in eine Beziehung einbringen, ist: der zu sein, der wir sind.

Wir denken vielleicht, andere fänden uns nicht sympathisch. Wir haben Angst, ein Mensch könne uns verlassen oder beschämen, sobald wir loslassen und wir selbst sind. Wir machen uns Sorgen darüber, was andere von uns denken.

Die Menschen schätzen unsere Gesellschaft, wenn wir uns selbst akzeptieren und entspannt sind, nicht aber, wenn wir steif und gehemmt sind.

Wollen wir wirklich mit Menschen zusammen sein, die keinen Gefallen an uns finden? Müssen wir uns und unser Verhalten von der Meinung anderer abhängig machen?…
… Unsere Meinung über uns selbst ist wirklich das einzige, was zählt. Und wir können uns die Anerkennung zollen, die wir wünschen und brauchen.

Heute entspanne ich mich und bin in meinen Beziehungen so, wie ich bin. Ich tue das nicht in unangemessener oder herabsetzender Weise, sondern in einer Weise, die zum Ausdruck bringt, dass ich mich selbst annehme und mich als die Person schätze, die ich bin. Hilf mir, Gott, dass ich keine Angst mehr habe, ich selbst zu sein.

An manchen Tagen fällt es mir schwer, mir das zu erlauben. Es fällt mir schwer zu vertrauen, dass in unserer Giraffengemeinschaft wirklich andere Maßstäbe gelten. Es fällt mir schwer zu glauben, dass ich nicht gleich bei einem „Fehler“ rausgeworfen, abgekanzelt, ausgeschlossen, nicht mehr beteiligt werde. Ich nehme mich auf dünnem Eis wahr. Wann breche ich ein?

Sich zumuten, berechtigt sein… wenn ich mir nehme, was ich als Erwachsene denke, dass ich es haben darf, schleicht sich von hinten unten die Angst an. Ein weites Feld für die nächsten Jahre… Da ist noch Raum für Wachstum.

Und bei Euch? Ist Angst ein Thema?

So long!

Ysabelle

Eine Reaktion zu “Angst essen Seele auf”

  1. Balou

    Liebste Ysabelle,

    meine Teilhabe an deinen Auseinandersetzungen, aktuell mit Angst, deine Transparenz über deine inneren Dialoge fördern auch meine Reflektionen. Mir wird dabei immer wieder bewußt, dass mein Wunsch nach Klarheit, der meine Auseinandersetzung mit der GfK, mit Yoga und Meditation mitbegründet hat, einer Sehnsucht nach Einfachheit und Bequemlichkeit entsprang. Mit wachsender Klarheit jedoch muß ich bemerken, dass nichts einfacher oder gar bequemer geworden ist. Und trotzdem erfüllt mich dieser Weg mit Glück und Freude. „Warum nur?“, frage ich mich.
    Es erfüllt mir Lebendigkeit! Ich lebe… und erlebe/erfahre zunehmend Intensität. YESSS!

    Vor kurzem las ich etwas, dass ich hier grob in eigenen Worten wiedergeben möchte: sitzen zwei Soldaten im Schützengraben. Der eine ist cool und raucht, der andere nervös und ängstlich zitternd. Sagt der Coole zum Ängstlichen: „Hast du Schiß?“, antwortet der Ängstliche: „Wenn du soviel Schiß hättest wie ich, würdest du schreiend weglaufen!“

    Ich sitze hier warm und trocken und höre von deinen Ängsten, sowie den Ängsten deiner Mitmenschen. Und ich bin beeindruckt, von deiner Kraft und Bereitschaft, all das zu sehen, zu fühlen, auszuhalten und dazu beitragen zu wollen, dass es dir und den anderen gut geht.

    Verzeih meine Blindheit, denn du sprachst von deinen Ängsten, und ich sehe nur Kraft und schlotternde Schönheit in deiner Wahrhaftigkeit und Präsenz.

    Kuss, Balou

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