Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Bitte höre, was ich nicht sage!

Hallo, Welt!
Eben rief überraschend eine Freundin an. Sie hat mein Weinen, meine Selbstzerfleischung und meine Urteile wunderbar ausgehalten und nach einer Dreiviertelstunde konnten wir uns auch ihrem Thema widmen. Dann schickte sie mir einen Text, den sie vor Unzeiten mal irgendwo entdeckt hatte. Er begeistert mich so sehr, dass ich ihn mit Euch teilen möchte.
So long!
Ysabelle


Charles C. Finn

Bitte höre, was ich nicht sage! Lass Dich nicht von mir narren. Lass Dich nicht durch das Gesicht täuschen, das ich mache, denn ich trage Masken, Masken, die ich fürchte, abzulegen. Und keine davon bin ich. So tun als ob ist eine Kunst, die mir zur zweiten Natur wurde. Aber lass Dich dadurch nicht täuschen. Ich mache den Eindruck, als sei ich umgänglich, als sei alles heiter in mir, und so als brauchte ich niemanden. Aber glaub mir nicht! Mein Äußeres mag sicher erscheinen, aber es ist meine Maske. Darunter bin ich, wie ich wirklich bin: verwirrt, in Furcht und allein. Aber ich verberge das. Ich möchte nicht, dass es jemand merkt. Beim bloßen Gedanken an meine Schwächen bekomme ich Panik und fürchte mich davor, mich anderen überhaupt auszusetzen.

Gerade deshalb erfinde ich verzweifelt Masken, hinter denen ich mich verbergen kann: eine lässige Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen, die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde. Dabei wäre dieser Blick gerade meine Rettung. Und ich weiß es.

Wenn es jemand wäre, der mich annimmt und mich liebt… Das ist das einzige, das mir Sicherheit geben würde, die ich mir selbst nicht geben kann: dass ich wirklich etwas wert bin. Aber das sage ich Dir nicht. Ich wage es nicht. Ich habe Angst davor.

Ich habe Angst, dass Dein Blick nicht von Annahme und Liebe begleitet wird. Ich fürchte, Du wirst gering von mir denken und über mich lachen. Und Dein Lachen würde mich umbringen. Ich habe Angst, dass ich tief drinnen in mir nichts bin, nichts wert, und dass Du das siehst und mich abweisen wirst.

So spiele ich mein Spiel, mein verzweifeltes Spiel: eine sichere Fassade außen und ein zitterndes Kind innen. Ich rede daher im gängigen Ton oberflächlichen Geschwätzes. Ich erzähle Dir alles, was wirklich nichts ist, und nichts von alledem, was wirklich ist, was in mir schreit; deshalb lass Dich nicht täuschen von dem, was ich aus Gewohnheit rede.

Bitte höre sorgfältig hin und versuche zu hören, was ich nicht sage, was ich gerne sagen möchte, was ich aber nicht sagen kann. Ich verabscheue dieses Versteckspiel, das ich da aufführe. Es ist ein oberflächliches, unechtes Spiel. Ich möchte wirklich echt und spontan sein können, einfach ich selbst, aber Du musst mir helfen. Du musst Deine Hand ausstrecken, selbst wenn es gerade das letzte zu sein scheint, was ich mir wünsche. Nur Du kannst mich zum Leben rufen.

Jedes Mal, wenn Du freundlich und gut bist und mir Mut machst, jedes Mal, wenn Du zu verstehen suchst, weil Du Dich wirklich um mich sorgst, bekommt mein Herz Flügel, sehr kleine Flügel, sehr brüchige Schwingen, aber Flügel!

Dein Gespür und die Kraft Deines Verstehens, geben mir Leben. Ich möchte, dass Du das weißt. Ich möchte, dass Du weißt, wie wichtig Du für mich bist, wie sehr Du aus mir den Menschen machen kannst, der ich wirklich bin, wenn Du willst.

Bitte, ich wünschte Du wolltest es. Du allein kannst die Wand niederreißen, hinter der ich zittere, Du allein kannst mir die Maske abnehmen. Du allein kannst mich aus meiner Schattenwelt, aus Angst und Unsicherheit befreien, aus meiner Einsamkeit.

Übersieh mich nicht. Bitte übergeh mich nicht! Es wird nicht leicht für Dich sein. Die lang andauernde Überzeugung, wertlos zu sein, schafft dicke Mauern. Je näher Du mir kommst, desto blinder schlage ich zurück. Ich wehre mich gegen das, wonach ich schreie. Aber man hat mir gesagt, dass Liebe stärker sei als jeder Schutzwall und darauf hoffe ich.

Wer ich bin, willst Du wissen? Ich bin jemand, den Du sehr gut kennst und der Dir oft begegnet.

7 Reaktionen zu “Bitte höre, was ich nicht sage!”

  1. Christel

    Danke für diesen wundervollen Text!
    Es tut mir gerade sehr gut ihn zu lesen und vieles daraus berührt mich sehr.

  2. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Christel,

    mich hat der Text auch spontan angesprochen. Jetzt, mit ein paar Stunden Abstand, bin ich schon wieder eher frustriert. Ich erkenne das Verstecken, das Verbergen, das sich nicht zeigen. Gerade heute habe ich damit selber ein großes Problem. Aber die Lösung kann nicht sein, dass der andere ahnt und auf mich zugeht. Die Lösung kann nur sein, dass ich in mir das Vertrauen finde: So wie ich wirklich bin, bin ich richtig und gewollt, egal, ob Du das in mir erkennst oder nicht. ICH bin diejenige, der das Licht aufgehen muss…
    Liebe Grüße,
    Ysabelle

  3. MarkusC

    Hallo Ysabelle,

    manchmal erstaunt es mich sehr, wie synchron manches abläuft…gestern erst habe ich meiner Freundin diesen Text gegeben weil ich selbst nicht ausdrücken konnte, was in mir vorgeht und jetzt postest du ihn in deinem Blog 🙂

    Der Text stammt übrigens ursprünglich aus dem Vorwort zum Buch von Tobias Brocher, „Von der Schwierigkeit zu lieben“ und hat einen anonymen Author. Der Author hat auf einer Konferenz von Psychologen diesen Text in die Runde gelegt und ist dann wortlos gegangen.

    Lieber Gruß,
    Markus

  4. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Markus,

    so anonym scheint der Autor nicht zu sein 😉

    Charles C. Finn, M.A., LPC has earned Master’s degrees in Counseling Psychology and English Literature from Loyola University in Chicago and is a published author. He has been a Licensed Professional Counselor in Roanoke and Salem since 1980, specializing in substance abuse (adolescent as well as adult), grief counseling, and issues relating to life transitions and the spirit journey.

    Es muss auch eine Webseite dazu gegeben haben:

    http://www.poetrybycharlescfinn.com/

    aber die ist zur Zeit Baustelle. Aber das Netz hat viele Fundstellen, in denen dieser Text diesem Autor zugeordnet wird. ich freue mich, dass wir gerade beide darüber fallen.
    Y.

  5. MarkusC

    Schade,
    die Vorstellung von einem anonymen Author fand ich irgendwie romantischer 🙂
    Macht aber Sinn, das Buch in dem ich diesen Text gefunden habe ist von 1975, da war es wohl schwer den Autor per Internet zu ermitteln 🙂

  6. Chris

    Hallo Ysabelle,
    auch ich finde mich in diesem Text sehr gut wieder.
    Und bis vor einem halben Jahr wäre ich nach dem Lesen des Textes voll Verzweiflung darüber gewesen, so jemanden bisher auf Dauer nicht gefundn zu haben … Und was es noch schlimmer machte: Ich hatte mich darauf spezialisiert, diese Bedürfnisse bei anderen tatsächlich auch hinter deren „schlimmsten“ Verhalten zu erkennen und ihre „Bitten“ zu erfüllen. Und war so maßlos enttäuscht „von der Welt“, dass ich das nicht wieder zurückbekam … Wenn ich es doch vormache, warum können die anderen es nicht „einfach“ umdrehen und auch mich so behandeln???
    Doch dann habe ich die GfK kennengelernt und verstanden, dass ich ihnen immer mit riesigen Wolfsohren zugehört habe, wenn sie zu mir sprachen! Dagegen anzukommen, ist bei meinem „Hörvermögen“ auf die Dauer für jeden (!) eine Überforderung!!!
    Ich lerne jetzt, MICH und meine Bedürfnisse nicht nur diffus wahrzunehmen, sondern auch konkrete (!) Bitten an den anderen zu richten! Und im Ärgerprozess kämpfe ich mich immer wieder von den Pseudogefülen, den Vorwürfen, zu meinen echten Gefühlen durch. Und erlebe auch, wie wunderbar und einfach das Geliebtwerden ist: die kleinen, konkreten Taten des Alltags zu würdigen als Ausdruck der gegenseitigen Wertschätzung. Mir erlebe endlch tatsächlich die Freuden des Fliegens – weil meine Flügel nicht mehr belastet sind von der unerfüllbaren Erwartung, dass der andere meine Wünsche mir nicht meht gegnn meinen misstrauischen Widerstand erfüllen muss. Und mit Ärgerprozess, Empathiegeben und Bitten äußern kann ich mich abgrenzen, ohne den anderen angreifen zu müssen! Was für eine Erleichterung im Kontakt mit anderen! Aber die erste Zeit – zu erkennen, dass es MEINE WAHL ist,ob ich mit Wolfs- oder Giraffenohren zuhöre und nicht die „Schuld“ des anderen, war hart! Und da hat nur Selbstempathie und Trauern geholfen. Mit goßer Dankbarkeit Chris

  7. Ysabelle Wolfe

    Hallo, Chris,
    danke für die Erinnerung an diesen Text! Es ist über 2,5 Jahre her, dass ich ihn eingestellt habe, und er ist mir total aus dem Fokus geraten. Dank Deiner Zeilen bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden und habe ihn gerade rauskopiert und für eines der nächsten Seminare für das Remembering archiviert. Ich finde den Text schön, und gleichzeitig verursacht er heute ein bisschen Bauchschmerzen bei mir. Wo bleibt die Eigenverantwortung des Schreibenden? Wieso muss es der andere sein, der hinter die Fassade schaut? Ich nehme GfK auch immer als ein Ringen um den authentischen Selbstausdruck wahr. Wie kann ich sagen, was in mir lebendig ist, und gleichzeitig für meinen Schutz sorgen? Gibt es in diesem Text eine konkrete, machbare Bitte? Als Gegenüber eines solchen Menschen möchte ich nicht dauerhaft/ständig den Part übernehmen, der hinter die Maske schaut. Ich möchte, dass der andere in die Lage versetzt wird, seine Maske abzunehmen. Ein Satz wie:

    „Ich möchte, dass Du weißt, wie wichtig Du für mich bist, wie sehr Du aus mir den Menschen machen kannst, der ich wirklich bin, wenn Du willst.“

    lässt mich schaudern. Da ist nach meinem Eindruck die Verantwortung nicht da, wo sie hingehört…
    Feiern möchte ich den Appell, hinter die Wolfsshow zu gucken, Feindbilder aufzulösen und mich wieder und wieder mit der Menschlichkeit meines Gegenübers zu verbinden. „Heilen“ (als Auftrag) möchte ich den anderen nicht…
    So long!
    Ysabelle

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