Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Krankenbesuch

Hallo, Welt!
Komme gerade zurück aus dem Krankenhaus, wo ich die Patientin aus meiner Familie besucht habe. Fast neun Stunden hat man sie gestern operiert, sie wird noch länger nicht sprechen können. Sie atmet über einen Stopfen in der Luftröhre und wird per Magensonde ernährt.
Ich hatte mich ganz gut auf diese Situation innerlich vorbereitet und war also nicht zu erschreckt. Aber ich habe an Marshall denken müssen, der eine Geschichte aus seiner Zeit als niedergelassener klinischer Psychologe erzählt. Ihm wurde eine Patientin gebracht, die nach Elektroschocks und anderen Behandlungen nicht mehr sprach, sondern nur noch zusammengekauert im Sessel saß. Tag um Tag verging damit, dass Marshall die Gefühle und Bedürfnisse der jungen Frau vermutete und ihr vortrug und dann auch darüber sprach, was das Gesehene in ihm auslöste. Nach Wochen schließlich brachte Patientin eines Tages einen Zettel mit, den sie in ihrer Faust verborgen hatte. Mit dieser Faust fuchtelte sie vor Marshalls Gesicht hin und her, bis er verstand, dass sie etwas für ihn in der Hand hielt. Und auf dem Zettel stand, wenn ich mich richtig erinnere, helfen Sie mir, Doktor Rosenberg…
Ich habe nur zwei Stunden im Krankenzimmer verbracht, aber danach war ich total erschöpft. Ich habe die ganze Zeit versucht, mich mit den Gefühlen und Bedürfnissen der Patientin zu verbinden, aber das war superschwierig. Wir haben ziemlich lange Zeit damit zugebracht, ihre Uhr zu suchen. Ich konnte ihre Zeichen nicht deuten. Und alle wahrscheinlichen Orte waren bald durchsucht und ich war nicht fündig geworden. Den Kosmetikkoffer haben wir letztlich zwei Mal ausgekippt, ebenso die Handtasche. Es war schwer für sie, auf Schreiben umzuschalten. Zwischendurch fiel mir ein, dass wir ja vielleicht eine meiner kleinen GFK-Karten verwenden könnten zum Kommunizieren, aber sie winkte ab. Die Schrift ist zu klein.
Wir sind letzten Endes klargekommen, vielleicht auch, weil wir uns recht gut kennen. Aber meine Bewunderung für Marshall, der das über Wochen durchgehalten hatte, ohne auf Zettel und Stift zurückgreifen zu können, stieg ins Unermessliche.

So long!
Ysabelle

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