Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Eine kleine Geschichte (Von Markus)

Hallo ihr Lieben!

Heute gibts von mir mal wieder eine kleine Geschichte über Einsamkeit, innere Anteile, … ich hoffe ihr habt Freude am Lesen!

Druckversion

Streetlife

Ich schleppe mich zitternd vorwärts, versuche der Eiseskälte zu trotzen.

Dicke weiße Schneeflocken fallen seit Stunden vom Himmel und hüllen die Stadt in einen hellen Mantel der alle Geräusche zu dämpfen scheint. Mein Atem kondensiert sofort in der frostigen Nachtluft, ich kann mit jedem Ausatmen sehen, wie mir ein Stück Wärme entgleitet. Meine Zehen spüre ich in meinen viel zu großen Stiefeln schon eine ganze Weile nicht mehr, sie sind undicht und bieten kaum Schutz gegen den Winter. Auch meine Kleidung taugt kaum um mich am Leben zu halten, ein Haufen dünner, verschmutzter Lumpen die an meinem ausgemergelten Körper schlaff herabhängen und kaum einem Windstoß standhalten können.

Ich versuche mich wach zu halten, laufe die dunklen Straßen auf und nieder um in Bewegung zu bleiben. In einer Nacht wie dieser kann es dein Tod sein, auf offener Straße einzuschlafen. Für einen Moment überlege ich, in die Mission zu gehen. Manchmal kannst du Glück haben und sie haben einen warmen Teller Suppe für dich übrig, an ganz besonderen Tagen vielleicht sogar einen Platz zum Schlafen.

„Aber heute nacht wird mir das Schicksal sicherlich nicht hold sein“, denke ich mir. „In einem solchen Sturm suchen selbst die härtesten Berber Unterkunft, wenn sie es sich nicht unter ihren Brücken einigermaßen geschützt eingerichtet haben, und da wird kaum ein Bett für mich übrig geblieben sein“.

Ich verwerfe den Gedanken und gehe weiter die erleuchtete Haupstraße entlang. Meine Finger sind in meinen abgeschnittenen Handschuhen zu blauen Stumpen erfroren, ich versuche, sie zu bewegen damit sie nicht absterben.

„Wenn ich wenigstens eine Decke hätte, oder mich rechtzeitig um einen Schlafplatz gekümmert hätte“, geht es mir duch den Kopf. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es Ende Oktober bereits so stürmisch und kalt werden würde. „Vielleicht werde ich auf meine alten Tage auch langsam weich, schließlich ist das nicht mein erster Winter auf der Straße“, denke ich mir.

„Na Immerhin hast du eine lebenslange Erfahrung darin, nicht zu sterben. Also halt durch!“, versucht meine Zähigkeit mir Mut zuzusprechen.

Nach einigen hundert Metern komme ich am hell erleuchteten Rathaus vorbei. Im Innern findet gerade eine Art Ball statt, ich sehe einen Haufen schick gekleideter Tänzer in Masken wie sie sich umeinander drehen. Es geht hoch her, sie scheinen sich köstlich zu amüsieren. Ich kann nicht umhin, meine Nase an der Fensterscheibe plattzudrücken. Was ich sehe verschlägt mir beinahe den Atem: Eine riesige Festtafel, bestimmt zwanzig Meter lang, opulent gedeckt mit Speisen die ich seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen habe.

Spanferkel, Weintrauben, Käseplatten und Suppenterrinen soweit das Auge reicht. Unwillkürlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich schließe kurz die Augen, um wieder zur Besinnung zu kommen.

„Genau das hast du immer verabscheut!“ rede ich mir ein. „Dekadente Schweine wie dieser Geldadel da drinnen sind der Grund, warum du überhaupt erst auf die Straße gegangen bist. Guck sie dir nur an, mit ihrem verlogenen Lachen, ihrer unehrlichen Heiterkeit und ihrem gespielten Getue“.

Die Worte erklingen in meinem eigenen Kopf, und doch erscheinen sie mir irgendwie hohl, unehrlich. All die Jahre als Ausgestoßener der Gesellschaft habe ich gewußt, dass ich solche Menschen verachte. Es war eine meiner tiefsten Überzeugungen. Aber tiefempfundene Überzeugungen neigen dazu, weniger fundamental zu wirken, wenn sie einen an den Rand des Erfrierungstodes bringen.

Durch die Scheiben sehe ich, wie die Gäste sich vor Hitze Luft zufächeln und an ihren Gläsern nippen um mit der Wärme klar zu kommen. Plötzlich ertappe ich in meinem Herzen den Wunsch dazuzugehören. “Es müsste ja nicht einmal so ein ete petete Edelschuppen sein. In eiskalten Nächten wie diesen würde es mir schon vollkommen genügen, einen Ort zu haben, wo ich mich ein bisschen aufwärmen könnte. Vielleicht einen Teller warme Suppe oder eine Ecke zum schlafen, mehr bräuchte ich doch gar nicht.“

Diese Stimme erklang schwach, kaum wahrnehmbar in meinem Herzen, wie ein zu leise gedrehtes Radio, so dass ich zunächst Schwierigkeiten hatte, die Worte wahrzunehmen.

Plötzlich schweifen meine Gedanken ab, in meinem Kopf dreht sich das Rad der Zeit um Jahre zurück und sucht, sucht nach dem Punkt, an dem alles begann, sucht nach der Entscheidung, die mich zum Außenseiter machte, dem Tag, an dem ich mein altes Leben verließ und statt dessen ein Leben in der Gosse wählte.

Ich weiß, dass irgendwo so ein Tag existieren muss, zumindest theoretisch. Genauso wie die Unterschiede zwischen Arm und Reich theoretisch irgendwann einmal begonnen haben müssen.

Aber die Suche ist zwecklos, denn meine Erinnerung kann sich nicht besonders gut unter all den anderen Stimmen behaupten und weiß kaum mehr etwas von meinem alten Leben zu berichten. Hatte ich Familie? „Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob du einst eine Frau hattest, die du verlassen hast, wer dich groß gezogen hat oder ob du einmal einen Beruf erlernt hast“.

Mir scheint als wären in meinem Dachgeschoß etliche dunkle Zimmer in denen ich nicht nur das Licht ausgeschaltet habe sondern sie vorsorglich noch mit Brettern vernagelt und zugemauert habe.

„Aber angenommen, nur mal angenommen, es gäbe ein Leben vor der Straße“, denke ich mir. „Sicher gab es gute Gründe, es aufzugeben, wie auch immer sie in Wahrheit aussehen mögen. Aber gibt es nicht auch genug gute Gründe, das Leben auf der Straße wieder aufzugeben?“

Meine Gewohnheit antwortet schnell mit einem entschiedenen NEIN, aber wer hat sie eigentlich zum Boss bestimmt?

Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin beneide ich die Menschen dort im Rathaus.

„Ich stehe hier halb verhungert in der Eiseskälte und kämpfe mit dem Tod während ein paar Meter von mir entfernt das Leben tobt und die schönsten Speisen aufgetischt werden.“

Sterben aus Gewohnheit? Nein Danke.

„Ok,“ meldet sich da eine weitere Stimme in meinem Kopf, „mag ja sein, dass sie es warm und gemütlich haben, aber sieh dir ihre Augen an. Viele von ihnen sind leerer und ausgebrannter als du es je warst. Willst du wirklich so enden?“ fragt mich meine Skepsis, und ich muss ihr zumindest ein gutes Argument zugestehen. Wahrscheinlich würde ich mich dort drinnen tatsächlich unwohler fühlen als hier draußen, zumal es wohl äußerst unwahrscheinlich wäre, dass sie einen zerzausten Straßenpenner wie mich auch nur in die Nähe der Türen lassen würden.

„Aber wie wäre es denn mit einem Kompromis? Vielleicht kann ich ja essen und es warm haben, ohne mich selbst aufzugeben.“ Ich bin selber überrascht darüber, so zu denken, denn bisher habe ich so einen Mittelweg nicht einmal in Betracht gezogen.

„Ganz oder gar nicht“ , das war immer schon mein Motto soweit ich zurückblicken kann, aber das ist ja wie bereits erwähnt nicht besonders weit.

Aber andererseits, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Ich kann ja nicht ewig Sklave meiner Vergangenheit bleiben.

Und vielleicht ist es ja mal wieder Zeit für Veränderung – ich merke wie meine Gewohnheit entsetzt aufschreit. „Ok ok, langsame Veränderung. Aber ich denke wir sind uns alle einige, dass etwas geschehen muss, wenn wir den Winter überleben wollen, oder?“ Zustimmendes Murmeln und Raunen in meinem Kopf.

Während ich mich langsam wieder vom Rathaus entferne um in Bewegung zu bleiben reift in mir auch langsam der Entschluss, mich vom Leben auf der Straße wieder zu verabschieden. Langsam natürlich…vielleicht fange ich an, indem ich zur Mission gehe und doch nach einem Schlafplatz frage? Oder ich könnte mich um ein paar neue gebrauchte Sachen kümmern um nicht herumzulaufen wie eine Vogelscheuche.

Wer weiß, auf was für Ideen mein Hirn noch kommt, wenn ich ihm mal wirklich zuhöre.

Markus


Der Weg vor mir ist dunkel und unbekannt,

doch das war der Weg hinter mir bis gestern auch

–        Früchte des Zorns

Einen Kommentar schreiben

Hinweise zur Kommentarabonnements und Hinweise zum Widerrufsrecht finden sich in der Datenschutzerklärung.

Copyright © 2024 by: Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren! • Template by: BlogPimp Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA.