Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Wortschätzchen: Provoziert

„Der Duft, der Frauen provoziert.“ –

Werbespruch, Axe

Diesem Wort nähere ich mich nur ganz vorsichtig. Es weckt in mir allerlei Assoziationen, und die sind keineswegs sexy, wie der Werbespruch für Axe vielleicht noch vermuten lässt.

Als ich ein Kind war, war „provozieren“ gleichzusetzen mit Prügel. Du hast mich provoziert, hieß es. In meiner Familie konnte man das noch steigern: du hast ja um Schläge gebettelt.
Allein bei der Erinnerung daran überfällt mich tiefe Verzweiflung. Gibt es unter Euch jemanden, der glaubt, ein Kind MÖCHTE geschlagen werden?
Am Samstag habe ich bei der Arbeit mit einem fünfjährigen Jungen zu tun gehabt. Ich war gerade dabei, das Essen für zehn Personen zuzubereiten und hatte schon die Nudeln im Topf, also Endspurt. Der Tisch war gedeckt und die Süßigkeiten weggeräumt. Doch der Kleine fand die Schale mit den Naschies und griff zu. Ich sagte, guck mal, das Essen ist gleich fertig, und deshalb möchte ich nicht, dass Du jetzt noch naschst. Dann hast Du ja gleich keinen Hunger! Er langte wieder in die Schale und sagte, ich will sowieso nicht Mittag essen.

Es verschlug mir echt die Sprache. Ich fühlte mich hilflos und frustriert, ich war ärgerlich und fassungslos. In mir stiegen Erinnerungen auf, wie ich diese Art von Diskussion mit meinem Sohn geführt habe, als er klein war, und ich war voller Scham, dass mir in diesem Moment mein GfK-Werkzeug nicht zur Verfügung stand. Und ich hatte tiefste Hochachtung für Eltern, die sich in einer solchen Situation mit dem Bedürfnis des Kindes verbinden können. Als ich Kind war, gab es für eine solche Antwort gleich eine Ohrfeige oder einen Katzenkopf: das hast du provoziert.

Wenn ich glaube, ich sei provoziert worden, liegt die Verantwortung für mein Handeln nicht mehr bei mir. Du bist Schuld. Du hast etwas gemacht, das mich meines freien Willens beraubte, dass ich nur noch eine einzige Möglichkeit gesehen habe, mich abzugrenzen, meine Interessen zu wahren. Damit bist Du dann auch dafür verantwortlich, was ich fühle und wie ich damit umgehe.

Ich habe schon zu oft erlebt, wie jemand handelt, der glaubt, provoziert worden zu sein. Prügeln, Brüllen, Bilder von der Wand dreschen, eine Beziehung beenden, Dinge zerschlagen. Wenn ich das erlebe, wird mir eiskalt ums Herz, ich habe Angst, ich traue mich nicht, mich zu bewegen, etwas zu sagen. Ich bewege mich wie auf rohen Eiern. Ich hantiere mit einer scharfen Handgranate und ein „falscher“ Blick lässt sie hochgehen…

Welche Gefühle werden lebendig, wenn der Gedanke kommt, man werde provoziert?
Alarmiert
Aufgeregt
Betroffen
Durcheinander
Einsam
Empört
Geladen
Hasserfüllt
Hilflos
Ohnmächtig
Schockiert
Streitlustig
Überwältigt
Ungeduldig
Zornig

Besonders beim Gefühl „einsam“ ging ich in Resonanz, das rührte mich ganz tief an. Meine Vermutung, welche Bedürfnisse in mir unerfüllt sind, wenn ich denke, ich würde provoziert, beginne ich deshalb mit
Verbindung
Gesehen/gehört werden
Respekt
Verstehen
Leichtigkeit

In der Hamburger S-Bahn-Station Jungfernstieg hat ein 16-Jähriger einen 19-Jährigen erstochen, weil dieser zu ihm gesagt hatte, was ist los, Alter? Der 16-Jährige sagte, er habe sich provoziert gefühlt.
Was mag er gefühlt haben?
Was mag meine Mutter gefühlt haben, wenn sie mich schlug?
Was habe ich gefühlt, wenn ich meinen Sohn geschlagen habe?
Verzweiflung und Ohnmacht. So war das bei mir. Hilflosigkeit, Wut.
Und es war verbunden mit der Gewissheit: ich bin richtig, und du bist falsch.
Und wenn ich mein Richtig nicht durchsetzen kann, dann knallt es. Dann bist DU schuld, denn Du hast mich provoziert. Auch wenn es ein fünfjähriger Junge ist, der in einer fremden Atmosphäre nicht einfach essen will, was die fremde Frau kocht. Der vielleicht Sicherheit braucht und Einbezogen sein, der sich wünscht, dass seine Bedürfnisse genau so zählen wie die der anderen.

Was kann ich tun, wenn in meinem Gehirn nur hämmert: Provokation! Der will mich vorführen! Ich werde gemobbt!

Mir fällt nur die Giraffenhotline ein. Irgendjemanden anrufen, der mir einfühlsam zuhört und mir Empathie gibt. Und der mich auf dem Weg begleitet, bei mir zu bleiben, statt außer mir zu sein.

Mögt Ihr die Überlegungen ergänzen?

Provoziert – das macht mir Höllenangst.

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