Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Penitent hat ausgedient

Hallo, Welt!

Es gibt einen wunderbaren Vortrag von Marshall Rosenberg, der mich auch nach dem hundertsten Hören immer noch berührt. Er hielt ihn aus Anlass des Jubiläums einer Kirchengemeinde und sprach über peace making ./. peace breaking und stellte sich als Experte in Sachen peace breaking vor. Im Verlauf des Vortrags beschreibt er dann, wie gewaltvolle Kindererziehung funktioniert. „You make them penitent“. Ich bringe also meinen Nachwuchs dazu, sich reuig zu zeigen, und ICH entscheide, wann das Kind (mein Gegenüber/ich selbst) genug Reue gezeigt hat, gelitten hat für das, was er oder sie angerichtet hat.

„Say, ‚I’m sorry!“

I’m sorry.

„No, that’s not enough!“

 

 

uuu huuu huu (Kind weint)
I’m sorry.

 

„Ok, I’ll forgive you“.

 

Kommt Euch das irgendwie bekannt vor? Ich habe tatsächlich unerfreuliche Erinnerungen daran, wie Entschuldigungen von meiner Mutter nicht angenommen wurden. „Das reicht nicht.“ Make them penitent. Davon hat man jahrzehntelang was.

 

Gestern Abend war GFK-Übungsgruppe in H.
Ich war spät dran, weil ich vorher unbedingt noch Mittag (!) essen wollte. Am Ende der Straße, in der ich wohne, kann man aktuell nicht rechts abbiegen, weil dort gebaut wird. Ein anderer Anlieger hatte mir berichtet, wir Anwohner dürften im Schritttempo durch diese kleine Gasse fahren und uns am Ende rechts in die Hauptverkehrsstraße schleichen. Ich kam ziemlich schwungvoll um die Ecke (ich hatte es eilig …) und hörte ein unangenehm knirschendes Geräusch.

Mir war sofort klar, dass ich irgendetwas getroffen hatte mit dem Auto. Aber erst mal wollte ich da raus aus der Straße. Im Rückspiegel konnte ich schließlich dieses Schild sehen, es wirkte recht schief auf mich.

Auf dem nächsten Parkplatz außerhalb der Stadt habe ich angehalten und bin ums Auto rumgegangen.

Schock, Schmerz. Die rechte Seite sieht furchtbar aus. Die vordere Tür war ja durch einen flüchtigen Radfahrer schon vor zwei Jahren eingedellt worden. Jetzt ziehen sich dramatische weiße Schlieren über die hintere Tür, die eine tiefe Beule hat. Die Heckschürze hat auch noch was abbekommen. Ich schätze den Gesamtschaden auf 6000 Euro und danke dem Himmel für meine Vollkasko-Versicherung.

Und jetzt geschah etwas, was sich total fremd anfühlte. I didn’t feel penintent. Normalerweise werde ich bei solchen FEHLERN von einer Welle Selbstvorwürfen überrollt. Wie konntest du nur … was das wieder kostet … unaufmerksam … schlechte Autofahrerin … DU BIST SCHULD. DU MUSST DAFÜR BÜßEN.

Diese Selbstvorwürfe kamen zusammen mit heftigen Schuldgefühlen und Angst. Gestern war das nicht der Fall. Im Vergleich zu früheren Situationen, die weniger als wunderbar waren, fühlte ich mich ruhig. Ich war traurig. Ich bin noch immer traurig. Mein schönes Auto! So eine schwere Verletzung! Tatsächlich war ich fast unmittelbar mit meinen unerfüllten Bedürfnissen in Kontakt:
Schönheit
Achtsamkeit (tatsächlich hatte ich das Schild nicht gesehen. Wie konnte das passieren?)
Sorgsamer Umgang mit meinen finanziellen Ressourcen
Respekt vor dem Eigentum anderer
Respekt vor den Mitgliedern meiner Übungsgruppe, die auf mich warteten.

Gleichzeitig gab es eine lebhafte Erinnerung, wie „penitent“ sich anfühlt: Reue, ausgelöst durch Angst, Schmerz und Druck. Und ich konnte mich „freuen“, dass es sich diesmal anders anfühlte. Es gab kein Rausreden, kein Wegducken, kein sich aus der Verantwortung stehlen. Ich habe noch gestern Abend ans Ordnungsamt geschrieben, dass ich den Pfahl touchiert habe und weiter gefahren bin (Fahrerflucht?). Heute Morgen war ich bei der Versicherung und in der Autowerkstatt. Ich übernehme die Verantwortung für mein Handeln. Ich tue mein Möglichstes, um mit diesem Schaden angemessen umzugehen. Ich kann ihn nicht ungeschehen machen. Aber ich muss mich deshalb nicht niedermachen, beschimpfen, unter Druck setzen, mich von mir abschneiden. Ich glaube, ich werde eine Kollegin um ein Coaching bitten. Zu viele Sachen laufen im Moment nicht rund, ich nehme das als Einladung, auf meinen aktuellen Tagesablauf zu schauen. Vielleicht braucht es hier eine Veränderung.

 

So long!

Ysabelle

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