Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Wortschätzchen: Trotzig

Hallo, Welt!
In den letzten zehn Tagen habe ich mich mehrmals am Wort „trotzig“ gestoßen. Es kam in Variationen, trotzig, Trotz, Trotzkopf. Ich gehe davon aus, dass zwischen uns Einigkeit herrscht, dass es sich dabei um eine Bewertung handelt. Doch was wird da überhaupt bewertet?

Mein teures Herkunftswörterbuch bietet mir hier: Tross, Trosse, Trost, Trottel, Trottoir und Troubadour. Vielen Dank, das war’s nicht. Das 1452 Seiten starke Wahrig „Deutsches Wörterbuch“ schreibt:

trotz (Präp., urspr. mit Dativ, heute meist mit Genitiv) ungeachtet … allem … alledem war es doch schön… … seiner Erfolge ist er bescheiden geblieben… etc.

Trotz (m., es; unz.) Widersetzlichkeit, Unfügsamkeit, Dickköpfigkeit, Eigensinn; jemandem oder einer Gefahr Trotz bieten. Widerstand entgegensetzen, kindlicher, kindischer Trotz; etwas aus Trotz tun oder nicht tun. Dir zum Trotz bleibe ich hier gerade weil du es anders willst; Seiner Warnung zum Trotz hat sie es doch getan; Trotz seiner Warnung, gerade weil er sie gewarnt hatte

So weit also mein erster Ausflug in die Gründe der Sprachwissenschaften. Es gibt übrigens noch das schöne Wort

Trutz (m., es, unz. poet.) Abwehr, Gegenwehr, Widerstand, (nur noch in der Wendung „zu Schutz und Trutz“. Und „trutzig“ ist ein Adjektiv und der poetische Ausdruck für mächtig oder massig (Burg).

Na, dämmert es Euch schon, worauf ich hinaus will?

Also, das Wort ist positiv besetzt, wenn es um eine Burg geht, der trutzige Burgfried dient zur Verteidigung und zum Schutz. Das Wort ist negativ besetzt, wenn es um die Handlungen oder Äußerungen eines Kindes geht, oder wenn eine Person sich trotz anders lautender „Empfehlungen“ zu einer bestimmten Handlung oder Unterlassung entscheidet. Zwei Mal nimmt das Wörterbuch Bezug auf Kinder. Explizit heißt es „dickköpfig“, nicht etwa beharrlich. Wir sind also im Wertungs-Modus angekommen.

Ein Freund sagte neulich, er spüre an einer bestimmten Stelle bei sich einen Trotz, und spontan fand er das ganz schrecklich und zum Abgewöhnen. Ich selber finde, das ist etwas zu feiern! Mit Energie zeigt sich da eine Kraft, die gesehen und berücksichtigt werden will. Jemand, der trotzt, hat also mutmaßlich unerfüllte Bedürfnisse nach

Autonomie
Teilhabe
Gesehen werden
Einbezogen sein
Wirksamkeit

und vielleicht noch nach manchem anderen. ich denke, derjenige, der das Wort „trotzig“ dafür verwendet, ist der Ansicht, diese Person müsse sich dem fügen, was jemand anderes sagt. Eine Autorität, ein Dienstherr, einer, der es besser weiß.
Voila! Sind wir da nicht wieder bei Hierarchien? Bei Oben und Unten, bei Richtig und Falsch? Und trotzen ist mal fast immer falsch, es sei denn, man wäre eine winterharte Pflanze oder Reinhold Messmer, der den arktischen Stürmen trotzt. Dann ist er ein Held. Überhaupt – den Naturgewalten trotzen, ihnen die Stirn bieten, das ist oft gut angesehen. Seenotretter oder die Leute von der Bergwacht sind Helden. Ein Stehbrettsegler, der den acht Meter hohen Wellen trotzt, ist ein Idiot, der mit seinem Leben spielt.

Also: Trotzen gehört sich nicht, jedenfalls in 95 Prozent der Fälle.
Deshalb sollen Kinder auch nicht trotzen. Pfui! Das ist unartig. Wie – du hast einen eigenen Willen?! Wo kämen wir denn da hin, wenn das jeder hätte? Gute Frage! Goethe schrieb dazu in einem Gedicht:


Prometheus
.

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;

Müßt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Gluth
Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Aermeres
Unter der Sonn’, als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät,
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Thoren.

Da ich ein Kind war,
Nicht wußte wo aus noch ein,
Kehrt’ ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär’
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz, wie mein’s,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir
Wider der Titanen Uebermuth?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverey?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blüthenträume reiften?

Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sey,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!

Ich erinnere mich an dieses Gedicht aus meiner Schulzeit. Ich hatte überhaupt keine Lust, es auswendig zu lernen. Aber als es mir jetzt wieder in den Sinn kam, habe ich mich über die damalige Quälerei gefreut. Hier steckt Tatendrang drin, Schaffenskraft, Energie! Wenn das Trotz ist, dann kaufe ich ein Fuder!

Gestern Mittag wurde ich Zeugin eines Gesprächs zwischen zwei Frauen. Und eine bezog sich auf ein Buch namens „Jedes Kind kann schlafen lernen“, das einfach super sei, und das Trotzen müsse man den Kindern halt abgewöhnen. Ich zitiere hier aus einer ein-Sterne-Bewertung von Amazon:

Ein Kind lernt durch sogenannte „Schlaflernprogramme“ – wie das in diesem Buch vorgestellte – NICHT das selbstständige Einschlafen und Durchschlafen, sondern dass seine Bedürfnisse von seinen engsten Bezugspersonen ignoriert werden. Wird es schreiend alleine gelassen, erlebt es Gefühle von Panik und Todesangst. Schreien lassen bricht den Willen des Kindes, zum Teil mit irreparablen Langzeitschäden. Wer möchte seinem Kind so etwas antun?

Also, ich bin noch so erzogen worden. Ich habe versucht, es bei meinem Kind anders zu machen und bin wegen fehlender Unterstützung ziemlich gescheitert. Was für ein Wahnsinn, einem Kind mit dem Bedürfnis nach Nähe – oder später mit dem Bedürfnis nach Autonomie mit Gewalt zu begegnen! Denn um nichts anderes handelt es sich, wenn ich jemandem, der in meiner Bewertung trotzt, das Recht abspreche, sich für seine Belange einzusetzen.

Und wie seht Ihr das?

So long!
Ysabelle

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