Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Struktur

„Die Musikindustrie geht heute nicht nur an mangelnder Kreativität zugrunde, sondern vor allem an ihren autoritären Strukturen und ihrem planwirtschaftlichen Kontrollwahn, so lange, bis jeder seinen Mist dazu getan hat, und bis die ganze Band in einem Netz aus Verpflichtungen hängt.“
Marek Lieberberg, Interview, 2. Juli 2005, sueddeutsche.de

Ich bin für ein paar Tage aus dem Verkehr gezogen. Nach einer Operation erhole ich mich zu Hause. Und ich merke, dass meine gewohnte Struktur zusammenbricht. Normalerweise stehe ich ca. 6.15 Uhr auf, gehe um 7.50 Uhr zur Arbeit, komme gegen 20.15 Uhr nach Hause. Auch dann gibt es noch Termine, Aufgaben, „Verpflichtungen“. Diese recht starre Struktur erfüllt mir verschiedene Bedürfnisse, zum Beispiel nach Ordnung und Sicherheit, nach Sinnhaftigkeit und Teilhabe.
Jetzt bestimmen Arzttermine meine Struktur. Gestern Morgen um 9 Uhr in der Nachbarstadt, gestern Nachmittag um 14.30 Uhr bei einem anderen Facharzt vor Ort. Ich stelle mir einen Wecker, um pünktlich beim Arzt zu sein. Das erfüllt mich nicht mit der gleichen Befriedigung wie pünktlich am Schreibtisch zu sitzen.
Gesten Abend habe ich mit Bangen erkannt, dass meine gewohnte Struktur wegbricht. Und heute Morgen entdeckte ich bei mir den Glaubenssatz, dass bestimmte Strukturen richtig sind und andere falsch.
Vor ziemlich genau zehn Jahren erhielt ich im Beruf eine ziemlich umfassende Bewertung meiner Arbeit. Darin stand unter anderem, dass ich extrem strukturiert vorgehe. Ich war ziemlich perplex, denn in meiner eigenen Wahrnehmung war ich ein Chaot mit Stapeln von Papier auf dem Schreibtisch. Aufgrund der beruflichen Einschätzung habe ich angefangen, gelegentlich genauer hinzugucken, wenn es um Struktur geht. Dabei stelle ich fest, dass es mir in beruflichen Zusammenhängen fast immer gelingt, Termine einzuhalten. Ich kann Dinge gut organisieren. Ich verpasse fast nie einen Zug, obwohl ich täglich fahre, Ich kann gut priorisieren, also Entscheidungen treffen, was als nächstes gemacht werden muss. „First things first!“ heißt das bei den Anonymen Alkoholikern.
Jetzt bin ich krankgeschrieben. Heute hat gar kein Wecker geklingelt. Ich bin um sechs, um halb acht und um neun aufgewacht und dann schließlich aufgestanden. Gestern Abend habe ich von sechs bis acht geschlafen und war dafür bis Mitternacht wach. Und vorhin habe ich realisiert, dass mir das Angst macht. Ich höre mahnende Stimmen, die mich im Ballonseiden-Jogginganzug und der Bierdose auf dem Sofa sehen, vor mir einen vollen Aschenbecher. Wer nicht arbeitet, hat keine Struktur, lässt sich gehen, ist nichts wert…
Da sind die ja, all die gängigen Vorurteile über Arbeitslose. Ausgeliefert mit der Keule, dass nur Arbeit das Leben süß macht, und Nichtstun gleichbedeutend ist mit Nichtsnutz.
Ich merke, dass ich mir bisher in meinem Leben gar keine Chance gegeben habe, meine eigene Struktur zu finden. Struktur wird vorgegeben durch Arbeitszeitregelungen, Bahnverbindungen, Öffnungszeiten von Geschäften und Sprechstunden von Ärzten. Was wäre so schlimm daran, erst nachmittags um fünf anzufangen zu arbeiten und um Mitternacht Feierabend zu haben, selbstbestimmt, versteht sich. Wie wäre es, keine Fünf-Tage-Woche zu haben, sondern im Sommer viel zu arbeiten und im Winter kaum? Warum bin ich so kritiklos bereit, mich Rhythmen zu unterwerfen, die gar nicht meine sind? Und warum fühle ich mich schlecht, wenn ich diesem Taktschlag nicht folge?
Heute will ich meine Aufmerksamkeit darauf richten, meine eigene Struktur zu finden. Ich bin bereit, die Strukturen, die meine Umwelt mir anbietet, für mich in Frage zu stellen und mir zu vertrauen, dass ich all meine Angelegenheiten geregelt bekomme, auch wenn ich mich nicht nach den Strukturen anderer richte.

Eine Reaktion zu “Struktur”

  1. Gabriel

    Tolles Eingangszitat!
    Ich habe diese Woche auch mit Struktur experimentiert: Ich habe „Urlaub“ (d.h. ich brauchte diese Woche nichts an der Telefonanlage zu machen) und habe die Woche über zu Hause an anderen Projekten gearbeitet. Jetzt, wo Du mich auf das Thema „Struktur“ aufmerksam gemacht hast, fand ich den Rückblick auf die Woche interessant: Ich konnte durch die Heimarbeit länger schlafen und mir mittags was kochen. Sonst hat sich nicht viel geändert, aber die zwei Dinge haben mein Leben sehr bereichert.
    Der Glaubenssatz „macht Arbeitslosigkeit/Untätigkeit faul“ wird gerade wissenschaftlich untersucht und widerlegt: http://www.heise.de/tp/artikel/34/34689/1.html

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