Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Blühende Landschaften

Hallo Welt!
Ich habe Urlaub gemacht. Zusammen mit einem nicht-deutschen GFK-Freund war ich eine Woche in einem kleinen Örtchen vor den Toren Pasewalks, also schon fast in Polen. Still ruht der See Bei einem abendlichen Spaziergang sah ich schöne neue Häuser, farbenfrohe modernisierte Häuser und Häuser, die anscheinend seit 1989 keine Veränderung außer dem Anbringen einer SAT-Anlage erfahren haben. Ich wies darauf hin und wurde immer ärgerlicher. Nach einer Weile sagte mein Begleiter: „Das ist jetzt das dritte Mal, dass du das ansprichst. Mir kommt es vor, dass du darüber ärgerlich bist. Geht es dir um Schönheit?“

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wirklich mit meiner Wut verbinden konnte. Und dann folgte wieder ein Schwall an Worten. Ich lass mal laufen:
Wieso können diese Hausbesitzer auch 26 Jahre nach der Wende nicht mal ihre verdammte Hütte streichen? Milliarden und Milliarden sind in diese Bundesländer geflossen, jeden Monat wird mir von meinem Gehalt ein Solidaritätszuschlag abgezogen. Hier sind alle Straßen picobello, während wir bei uns die reinsten Schlagloch-Pisten haben. Und dann wird immer nur gemeckert, auf den Westen geschimpft, bei PEGIDA gebrüllt, AfD gewählt.

Mein Freund fragte, „geht es dir um Dankbarkeit?“
Längerer Gefühls-Check. Nein.
Langsam schälte sich heraus: Es geht um Anerkennung und Wertschätzung. Und um die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln oder Unterlassen.
Von einigen Menschen in meinem Bekanntenkreis, die in der DDR zu Hause waren, höre ich Aussagen wie „der Westen hat uns übernommen“, oder „wir sind ja jetzt eigentlich ein besetztes Land“, oder „alles was bei uns gut war, ist kaputt gemacht worden“. Und in mir ist dabei ein großer Schmerz. War es denn nicht ihr freier Wille, dass wir jetzt in einem Land leben? Im Gegensatz zu mir hatten „die“ doch wenigstens eine WAHL gehabt im März 1990. Sie hatten sich für den Anschluss entschieden, oder? Sie hatten die D-Mark gewählt, oder?
Ich erinnere mich an den Herbst 1989. Ich weiß, wie ich die Nacht, in der die Mauer aufging, vor dem Fernseher verbrachte. Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Die Mauer war auf! Ich erinnere mich an eine Titelgeschichte im „Stern“. Damals war Oskar Lafontaine Kanzlerkandidat, und er setzte sich für zwei deutsche Republiken ein, die einander befruchten und nahe stehen. Als unpatriotisch und Vaterlandsverräter wurde er damals kritisiert. Zu hunderttausenden kamen die Menschen aus dem Osten in den Westen, das Lager Friedland war überfüllt. Hier ein Zitat von Deutschland Radio Kultur:

„Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“. Friedrich Schorlemmer, Theologe und wortgewandter Bürgerrechtler, will den Spruch schon im Dezember 1989 auf einer Leipziger Montagsdemonstration gesehen haben.

Schorlemmer: „Jedenfalls ist meine Erinnerung so. Und Sie wissen: Erinnerung täuscht, denn ich kann nicht mehr sagen, wann, an welchem Tag genau, oder so; kann doch auch sein, dass es erst im Januar gezeigt wurde. Aber: Richtig ist, dass nach dem 9. November änderten sich die Demonstrationen, vor allem die Ziele der Demonstrationen – wie ich finde, auf eine fatale Weise. Nämlich: Alles richtete sich jetzt nicht mehr darauf, die Selbstbefreiung voranzubringen, und Strukturen der Demokratie aufzubauen, sondern: möglichst schnell Deutsche Einheit zu erreichen, D-Mark besitzen, Ende der Demütigung mit der Ost-Mark, die nirgendwo kompatibel war – man wollte auch nicht mehr, wenn man zur Großtante in den Westen fuhr, 50 D-Mark kriegen und ansonsten dann seinen Verwandten auf der Tasche liegen …“

und an einer späteren Stelle des Textes sagt Schorlemmer:

Schorlemmer: „Wir hätten einen längeren Weg in unserem Land zu uns selbst finden sollen, um dann nicht als Konkursmasse der Bundesrepublik, der prosperierenden Bundesrepublik angeschlossen zu werden, sondern als ein Partner, als ein willkürlich abgeteiltes Teilland Deutschlands, nun uns überlegen: Wie wollen wir unser Land gemeinsam gestalten, und wie erfüllen wir Artikel 146 des Grundgesetzes? Nämlich dass das deutsche Volk sich in freier Selbstbestimmung eine Verfassung gibt? Und zwar so, dass die unterschiedlichen Erfahrungen da mit einfließen können. Was wir aber hatten war: Die komplette Übernahme. Nicht ein einziger Blick wurde mehr in den Verfassungsentwurf des Runden Tisches getan, kein einziger Blick wurde hereingeworfen in diesen Verfassungsentwurf.“

Mein Freund fragte weiter, denn ich war mittlerweile immer mehr in Fahrt geraten. „Was genau ist es, was dich daran so aufregt, dass diese Häuser nicht renoviert sind?“

Dann endlich machte es „klick“ in meiner Rübe.
Ich interpretierte ein nicht renoviertes Haus als Anklage, als Anzeichen von Märtyrertum: „Seht her, was geht es mir schlecht, und IHR seid schuld!“ Dort wohnte also ein Opfer, und ich, die Wessi-Tussi, war also die Täterin.

Auch eine Woche nach dieser Erkenntnis wühlt mich diese Szene auf. Das graubraune Haus, die einfach verglasten Fenster aus verschiedenen Materialien, das „ungepflegte“ Grundstück … Von zehn Häusern in dem Ort waren neun schön zurecht gemacht. Vielleicht sogar von 100 Häusern 95. Es gab drei Wohnblocks in dem Ort – Einer war renoviert mit neuen Fenstern und frisch gestrichen. Einer war anscheinend renoviert worden, aber stand jetzt leer, Scheiben waren eingeschlagen. Der dritte war alt, kaum renoviert und offensichtlich bewohnt. Und ich starrte nur auf die „DDR-Ruinen“. Ich sah auch nicht, „was ist“, sondern ich sah meine Interpretationen und war meinen Urteilen tatsächlich so lange ausgeliefert, bis mein Freund mich darauf aufmerksam machte.

Gestern Abend haben wir in der Übungsgruppe über die GFK-Matrix gesprochen, die hier ja schon vielfach erwähnt wurde. Gerade das hier beschriebene Beispiel macht mir deutlich, dass ich jeden Tag vor einem neuen Anfang stehe. „Unbewusst inkompetent oder „unbewusst kompetent, also integriert“ – manchmal liegt dazwischen nur ein kleiner Schritt. Ich entscheide jeden Tag neu, mich von meinen Projektionen und Interpretationen zu lösen. „With a little help from my friends“ … Danke an alle Freunde, die mir helfen, die Realität anzunehmen.

So long!

Ysabelle

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