Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Wortschätzchen: Fähig

Ich brauche mich jetzt nicht mehr als intolerant zu sehen, sondern einfach nur in der damaligen Situation nicht fähig, meinen Bedürfnissen (…) so Ausdruck zu verleihen, dass sie gehört und verstanden werden.
Gabriel in einem Kommentar zu einem Wortschätzchen

Klingt doch ganz harmlos, oder? Nicht fähig… Klingt auch nicht so schlimm wie unfähig. Trotzdem haute ich mir an der Begrifflichkeit gleich ein Auge blutig und ich habe Gabriel gefragt, ob ich ihn für das nächste Wortschätzchen zitieren darf.

In einem meiner GfK-Bücher fand ich vor Jahren einen Hinweis, man möge einen Koch nicht mehr einen Koch nennen, weil das ein Label, ein Etikett sei. Als ich das damals las, dachte ich, Himmel, man kann’s auch übertreiben. In dem Textabschnitt wurde vorgeschlagen, man möge sagen, jemand sei beruflich mit der Zubereitung von Speisen beschäftigt, oder man möge die Tätigkeiten aufzählen, die der „Koch“ vornehme. Und ich dachte, ne, das geht mir echt zu weit.

Doch neulich habe ich miterlebt, wie ein Mensch zum Gewalttäter erklärt wurde. Menschen, die sich so und so verhalten, sind Gewalttäter. Zack! Da klebte ein Etikett an der Person. Es war geeignet, den anderen zu diffamieren.
Das gilt auch für Vergewaltiger, Polizistenmörder, Steuerhinterzieher, Schlaumeier, Drückeberger, Karrieristen, Faulpelze, Kanaken, Rechte, Linke, Schwule, Behinderte, grüne und schwarze Witwen, Mercedesfahrer und Arschkriecher.

Nun scheinen diese Beispiele noch einigermaßen einleuchtend und nachvollziehbar. Doch was ist „falsch“ mit fähig?

Gehen wir zum Ausgangspunkt zurück:
Gabriel schätzte sein eigenes Verhalten ein. „Ich war nicht fähig, meinen Bedürfnissen … Ausdruck zu verleihen.“ Im günstigsten Fall ist dieser Satz ein Ausdruck von Trauern und Bedauern.
Seine Gefühle wären dann vielleicht:
bedrückt
bitter
deprimiert
einsam
elend
enttäuscht
frustriert
hilflos
leblos
perplex (ob der neuen Erkenntnis)
traurig
unbehaglich
unzufrieden

je nach Tagesform vielleicht vom einen mehr und vom anderen gar nichts.
Wenn aber jemand, der denkt, er sei zu etwas nicht fähig gewesen, das durch die urteilende Brille betrachtet, kommen wahrscheinlich noch ein paar mehr Gefühle ins Spiel oder einige der bereits aufgezählten würden ihre giftige Note entfalten, weil sie durch den Fleischwolf gehen (= im Kopf wird das Gefühl interpretiert und ein paar Urteile kommen dabei raus). Und dann sind wir in Nullkommanix bei beschämt, niedergemacht, schuldig, unwichtig, unwürdig und wertlos. Wenn ich dazu nicht fähig bin, bin ich… FREIE AUSWAHL…

Als Gabriel also schrieb, er sei nicht fähig gewesen, waren vermutlich folgende Bedürfnisse bei ihm im Mangel:

Sicherheit
Selbstvertrauen
Integrität
Kongruenz
Authentizität
vielleicht auch Beteiligung
Gesehen und gehört werden
Vertrauen
Wertschätzung
und Harmonie.

So oder ähnlich könnte es gewesen sein.
Und fähig als Pendant zu „unfähig“ ist ab sofort auf der Roten Liste der Worte, die ich nur zu sehr bestimmten Anlässen heraushole. Aber möglichst nicht um mich oder andere zu beurteilen.

Mögt Ihr die Gedanken ergänzen?

Ysabelle

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