Ich hätte gern ein Paar Giraffenohren!

Unterwegs mit gewaltfreier Kommunikation – von Ysabelle Wolfe

Was nicht in der Zeitung steht

Eine Geschichte von Bob Morris

Die wichtigsten Begebenheiten bleiben meist unveröffentlicht.

Wenn ich in die Nachrichtenredaktion komme und einen Kollegen frage, was denn heute so passiert sei, bekomme ich oft zu hören: „Nichts Berichtenswertes. Ein Tag ohne besondere Vorkommnisse.“
Keine Skandale, keine Katastrophen, keine skrupellosen Verbrechen. Ein Tag ohne besondere Vorkommnisse? Als ob es das überhaupt geben könnte!

Überall auf der Welt werden heute Chirurgen vor der geöffneten Brust eines Patienten stehen. Sie werden ein Herz, das 60 Jahre lang geschlagen hat, anhalten, drei Venenstückchen daran anschließen und es wieder zum Schlagen bringen. Als diese Chirurgen noch Kinder waren, gehörte eine solche Leistung in den Bereich der Sciencefiction – doch keine Schlagzeile würdigt sie.

Heute wird sich irgend jemand verlieben. Und nichts, was sonst passiert – Friedensverträge im Nahen Osten, der letzte Auftritt irgendwelcher Politiker –, wird sein Gefühl beeinträchtigen, auf Wolken zu schweben, mit dem Universum eins zu sein.
Aber es wird darüber keine Pressemitteilung erfolgen, die die Medien darauf aufmerksam macht.

In einem Klassenzimmer wird ein Sechsjähriger verstehen, dass eins plus zwei drei ergibt. Eine ganze Lawine weiterer Entdeckungen wird sich daran anschließen. Und vielleicht wird genau dieses Kind eines Tages den Schlüssel zu einem Geheimnis finden, zu dem die Mensch­heit heute noch keinen Zugang hat.
Doch wird das Kind oder sein Lehrer in den Nachrichten erwähnt werden? Wohl kaum.

Heute wird ein guter Arbeiter erfahren, dass die Stelle, die sein ganzes Leben ausgefüllt hat, gestrichen worden ist. Morgen wird er diese Welt in einem völlig anderen Licht sehen, und er wird versuchen, dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen.
Aber das wird nicht in der Zeitung stehen.

Eine Ehe wird heute enden. Ein Mann und eine Frau werden einander über den Frühstückstisch ansehen und wissen, dass die Wunden so tief sind, dass ihre Beziehung nicht wiederbelebt werden kann.
Der Schmerz im Gesicht des Kindes, dem man sagt: „Dein Vater wird ab jetzt nicht mehr hier wohnen“, wird in den Nachrichten keine Erwähnung finden.

Eine Richterin wird einem jungen Straffälligen in die Augen sehen und sagen: „Ich werde Ihnen noch eine Chance geben.“ Die Worte wer­den den Angeklagten zum Umdenken bringen, und allen Widrig­kei­ten zum Trotz wird er sein Leben wieder in den Griff bekommen.
Lesen werden Sie darüber nichts.

Genau in diesem Augenblick tut ein Kind im hellen Licht des Kreiß­saals seinen ersten Atemzug.
Dem Wunder des Lebens wird man in der Zeitung nur drei magere Zeilen zugestehen.

Und es wird auch jemand sterben. Eine Pflegerin des Heims wird ihn fin­den, wenn sie ihre Runde macht. Sie wird den Arzt und die Angehörigen des Mannes anrufen. Eine Krankenschwester wird die nötigen Formalitäten erledigen.
Der Tod dieses Mannes wird in der Zeitung stehen. Die Anzeige wird weniger über ihn aussagen als über die Hinterbliebenen.

Am heutigen Tag wird das Leben vieler Menschen für immer verän­dert werden. Für niemanden wird es von großer Bedeutung sein, außer für einen kleinen Kreis von Familienangehörigen und Freunden.
Es werden Leute heiraten, von zu Hause weglaufen, ins Gefängnis gesteckt werden. Jemand wird seine erste Erfahrung mit Shakes­peare machen, mit Sex oder Schnecken in Kräuterbutter.
Der Tag wird ereignisreich sein: voller Leidenschaften und Leistun­gen, voller schmerzlichem Versagen und Tragik. Und das werden wir wieder einen Tag ohne besondere Vorkommnisse nennen.

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